Das Attentat in Hanau

Emotionaler Abend mit Betroffenen: "Viele Fragen sind offen geblieben"

Cetin Gültekin, Bruder einer der Mordopfer vom 2. Februar 2019 in Hanau (Zweiter von links), Hagen Kopp von der "Initiative 19. Februar Hanau" (Zweiter von rechts), Moderatorin Hasibe Özaslan (rechts) und Fabian Göbel von "Bunt statt braun".
Fotos: Christopher Göbel

07.06.2024 / BAD HERSFELD - Nach dem Attentat eines rassistischen Täters am 19. Februar 2020 in Hanau sind noch viele Fragen offen. Das sagen Cetin Gültekin, Bruder des damals ermordeten Gökhan, und Hagen Kopp von der "Initiative 19. Februar Hanau". Auf Einladung des Bündnisses "Bunt statt braun Hersfeld-Rotenburg" waren Gültekin und Kopp nach Bad Hersfeld gekommen, um mehr als vier Jahre danach über den Abend des 19. Februar 2020 und die aktuelle Situation des Rassismus in der Region zu sprechen. Dabei äußerten sie vor allem Kritik an den Behörden und der Polizei - aber auch an den eigenen Landsleuten.



"Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland" lautet der Titel des Buches, das Cetin Gültekin gemeinsam mit Mutlu Kocak geschrieben hat. "Mutlu und ich habe drei Jahre gebraucht, um das Buch fertigzustellen. Wir haben dafür sehr viele Opfer gebracht", so Gültekin. Dabei sei er auch auf Schwierigkeiten mit seiner eigenen "Community" gestoßen: "Sie haben mich beispielsweise gefragt, wie ich als Kurde mit dem Türken Kocak zusammenarbeiten könnte", so der Autor, der bis heute unter Schlafstörungen leidet. "Ich muss erstmal den Rassismus in der eigenen Community bekämpfen. Aber ich wollte meinen Bruder mit dem Buch unsterblich machen."

Mehr Aufmerksamkeit für die Opfer

Moderatorin Hasibe Özaslan aus Bad Hersfeld hatte zu Beginn des Abends im Bürgerhaus Hohe Luft gesagt, dass sie sich an den Abend des Attentats erinnern könne. Stadtkirchenpfarrer Frank Nico Jaeger habe umgehend zu einem gemeinsamen Gottesdienst eingeladen. Im Laufe der Zeit wurde unter dem Hashtag #saytheirnames klar: Den neun Opfern müsse mehr Aufmerksamkeit als dem Täter zukommen. Dessen Name wurde im Laufe des Abends kein einziges Mal genannt, obwohl er bekannt ist.

Für das Buch wurden rund 100 Stunden Interviews geführt. Die Autoren benennen auch "behördliche Ungereimtheiten", die sich vom Abend des Attentats bis hin zum Abschlussbericht des Bundeskriminalamtes hinziehen. 2023 gab es einen 624 Seiten umfassenden Abschlussbericht der Bundesstaatsanwaltschaft zu dem Attentat, bei dem neun Menschen sterben mussten - der Täter und die von ihm erschossene Mutter nicht mitgezählt. Doch Gültekin, Kopp und viele andere Familienmitglieder der Getöteten sind damit nicht zufrieden. "Wir führen diesen Kampf nun seit vielen Jahren", sagte Kopp. Unter www.kein-abschlussbericht.org hat die Initiative alle Ungereimtheiten aufgeführt. Dort ist auch ein Film zu sehen, der am Abend mit Familienmitgliedern gezeigt wurde.

Entsetzte Stille

In Bad Hersfeld herrschte entsetzte Stille, als die beiden Hanauer von grausamen Details am Abend des Attentats, falschen Entscheidungen von Behörden und Polizei, der Ungewissheit, ungenehmigten Obduktionen und den fünf folgenden Tagen erzählten, in denen die Familien der Opfer nicht wussten, wo ihre Kinder, Geschwister und Enkel überhaupt sind. Auch der Notruf 110 funktionierte offensichtlich an diesem Abend nicht. "Wäre der Notruf erreichbar gewesen, hätten einige der Morde vielleicht verhindert werden können", so Kopp. Denn der Täter erschoss zunächst drei Menschen in einer Shishabar am Heumarkt, ehe er am Kurt-Schumacher-Platz sechs weitere Morde beging. "Bis heute gibt es keine Entschuldigung für behördliches Versagen", konstatierte Kopp. Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu wurden an diesem Abend getötet.

"Der Tod meines Bruders war nicht umsonst"

"Hanau muss eine Zäsur sein. Der Tod meines Bruders war nicht umsonst. Es muss sich etwas ändern", sagte Gültekin. Nach dem Attentat hätten er und weitere Aktivisten mit dem damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) eine Verschärfung des Waffengesetzes initiiert. Nach einer Lockerung des Waffengesetzes war nicht mehr nötig, dass bei der Beantragung eines Waffenscheines ein Gesundheitszeugnis vorgelegt werden musste. Nur so habe der Täter von Hanau legal an Waffen kommen können, denn er war nachgewiesn psychisch krank. "Doch eine Waffenlobby hat interveniert, so dass es zu keiner Gesetzesänderung kam", empörte sich Gültekin, der sich bei seinen Ausführungen oft sehr emotional zeigte.

"Ich habe das Buch geschrieben, damit sich etwas ändert. Es soll gesellschaftliche Konsequenzen haben." "Der 19. Februar ist ein Zeichen dafür, dass viel schiefgelaufen ist", resümierte Özaslan. "Wir werden weitermachen", so Hagen Kopp. "Es muss eingeräumt werden, dass kapitale Fehler passiert sind. Bisher gibt es keine Fehlerkultur. Es könnte genauso wieder passieren, weil nicht gelernt wird." Aus seiner Sicht seien der damalige Ministerpräsident Volker Bouffier und der damalige Innenminister Peter Beuth (beide CDU) die Hauptverantwortlichen.

Chance für neue Ermittlungen

In der anschließenden Fragerunde sagte Kopp, dass die inzwischen neue Landesregierung in Hessen die Chance böte, neue Ermittlungen einzuleiten. "Daniel Muth ist neuer Präsident des Polizeipräsidiums Süd-Osthessen. Nach seinem Amtsantritt hat er sofort das Gespräch mit uns gesucht". Auch Innenminister Roman Poseck (CDU) wolle sich mit den betroffenen Familien treffen. "Das ist ein gutes Zeichen", so Gültekin. Boris Rhein (CDU), 2020 Landtagspräsident, habe sich ebenfalls mit den Familien getroffen. "Aber seitdem er Ministerpräsident ist, ist nichts weiter passiert", bedauern Kopp und Gültekin.

"Es ist mit dem Anschlag in Hanau nicht vorbei", so Moderatorin Hasibe Özaslan. Auch heute sei der Alltagsrassismus sehr präsent. Kürzlich gab es einen rassistischen Vorfall bei einem Kulturfest in Bad Hersfeld (O|N berichtete). "Es gibt sogar Menschen mit Migrationshintergrund, die AfD wählen", so Gültekin. Er bedauerte auch, dass zu seinen Lesungen "so wenige Menschen aus meiner eigenen Community kommen". "Ein Mensch ist ein Mensch. Wir müssen Menschen so akzeptieren, wie sie sind", sagte er. Kopp erwähnte, dass der Widerstand gegen den Rassismus weitergehen müsse. "Wir wollen Menschen ermutigen, sich gegen Diskriminierung einzusetzen." Es gebe ein Theaterstück über das Attentat und auch die Initiative könne beispielsweise bei Besuchen in Schulen informieren. Gültekin bot Lesungen aus seinem Buch an.

Kein zufriedenstellendes Ende

Gefördert wurde die Veranstaltung vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen udn Jugend und im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!". Das Publikum dankte mit Applaus für einen Abend, der informativ und emotional zugleich war. Der mehr Fragen offen ließ, als beantwortet wurden. Und einen Abend mit einer Thematik, die bis heute kein zufriedenstellendes Ende für viele der Betroffenen bietet. (Christopher Göbel) +++

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