O|N-Serie über jüdische Feiertage (5)

Jom Kippur – der Tag, an dem Gott uns verzeiht

Bella Gusman und Frau Vachenauer begrüßen sich herzlich, beide sind ganz in weiß gekleidet, der Farbe dieses Tages
Alle Fotos: Martin Engel

26.09.2023 / FULDA - Der Monat Tischrei ist der erste Monat des Jahres 5784 nach dem jüdischen Kalender (= September 2023), und er ist voller Festtage. Es beginnt mit Rosch Haschana (16./17.09., Neujahr), dann folgt Jom Kippur (24./25. 09., Tag der Sühne), den Abschluss bildet Sukkot (ab dem 29.09., Laubhüttenfest). Diese drei Feste hängen zusammen, sie zeigen wie in einem Muster die Schattierungen jüdischen Lebens.



Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag, weil Gott an diesem Tag dem jüdischen Volk die Sünde des goldenen Kalbs vergeben hat. Der Tag erinnert an die besondere Beziehung des jüdischen Volks zu Gott. Dieser Gott bleibt seinem Volk auch dann treu, wenn es sündigt und gegen seine Gebote verstößt. Was für ein tröstlicher Gedanke – ich darf auf Gott vertrauen, auch wenn ich schlechte Dinge getan habe. Ich darf vertrauen, weil er mir vertraut, meine Verfehlungen zu erkennen und zu bereuen. So erklärt sich die feierliche Grundstimmung von Jom Kippur – er steht ganz im Zeichen der Bußgebete.

An Jom Kippur steht in Israel das gesamte öffentliche Leben still – nichts geht mehr. Flughäfen sind geschlossen, Grenzübergänge auch, kein Café oder Restaurant ist geöffnet. Fast kein Auto fährt, nur Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen. Es gibt weder Radio- noch Fernsehprogramme. Nicht nur konservative, auch säkulare Juden beachten Jom Kippur. Sie haben vor Jahren damit begonnen, diesen Tag als Fahrrad-Feiertag zu begehen. Das sei, versicherte mir meine in Tel Aviv lebende Freundin, allerdings nicht ganz ungefährlich. Denn es seien immer noch genügend Autos unterwegs, und die oft zu schnell, weswegen es immer wieder zu Unfällen käme. Einen kleinen Eindruck davon, wie es ist, wenn ein Land "schließt", haben wir alle im März 2020 beim ersten Corona-Lockdown erlebt.

Zwei Erinnerungen sind untrennbar mit Jom Kippur verbunden. Im Oktober 1973 begannen Syrien und Ägypten den Jom-Kippur-Krieg, weil sie Israel an diesem Tag für besonders verwundbar hielten. Diese Erfahrung führte dazu, dass die volle militärische Einsatzfähigkeit Israels seitdem auch an diesem Tag aufrechterhalten wird. Und im Oktober 2019 wurde in Halle an diesem Tag der Anschlag auf die Synagoge verübt.

Sejudat Mafseket – die Trennungsmahlzeit

Bei Sonnenuntergang am 24. September um 19:02 Uhr beginnt Jom Kippur. Zuvor speisen alle gemeinsam. Bevor das Mahl beginnt, erfolgt die rituelle Waschung der Hände. Nicht einfach unter fließendem Wasser, nein, man füllt einen Krug mit Wasser und übergießt dreimal jede Hand. Dazu spricht man den Segensspruch: "Baruch ata Ado-naj, Elohenu Melech Ha’Olam, ascher kideschanu bemizwotaw, weziwanu al netilat jadajim – gesegnet seist Du, Gott, unser Herr, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns auf das Waschen der Hände verpflichtet hat." Mein Tischnachbar Ingo Rothkegel macht mich darauf aufmerksam, dass man dieses Gebet selbstverständlich nicht in einem Waschraum spricht – das gehört sich nicht. Man spricht es mit noch nassen Händen, wenn man den Waschraum verlassen hat.

Die Mahlzeit trennt einen normalen Tag von diesem Festtag, der überdies ein Fastentag ist. 25 Stunden werden gläubige Juden nun fasten. Deshalb sollen alle Speisen beim Fasten nicht stören und leicht sein, sie sind außerdem nicht gesalzen. Es beginnt mit einem runden Challah-Brot, das mit Rosinen und Cranberry gefüllt ist, darauf folgt eine Suppe, dann ein Teller mit Kartoffeln, Tofu und einem Eier-Bohnen-Salat mit gedünsteten Zwiebeln. Alle beten das "Birkat Hamason", das Dankgebet – und dann beginnt die Jom-Kippur-Feier.

Ein durch Gebete geprägter Tag

Der Tagesablauf an Jom Kippur ist durch fünf Gottesdienste geprägt. Jeder jüdische Feiertag beginnt am Vorabend mit dem Sonnenuntergang und endet tags darauf beim Sonnenuntergang. Das erste Gebet ist das Kol Nidre, am nächsten Morgen folgen das Schacharit-Gebet und das Mussaf-Gebet, den Abschluss bilden das Minche-Gebet und das Ne’ila-Gebet. Mit dem Blasen des Schofar-Horns wird dieser Feiertag beendet. An Jom Kippur werden die Bücher, die an Rosch Haschana geöffnet wurden, wieder geschlossen. Wer ins Buch des Lebens eingetragen wurde, kann sich mit Gott versöhnen – deshalb wünscht man sich an diesem Tag "Gmar Chatima tova!" – gutes Eintragen.

An Jom Kippur ist weiß die dominierende Farbe. Der Tora-Schrein ist mit einem weißen Vorhang verhängt, der Altar mit einem weißen Tuch geschmückt, und alle tragen Weiß. Weiß ist die Farbe derer, die ihre Sünden bereut haben und von ihnen befreit sind. Und wenn Sie jetzt an Engel denken, liegen Sie nicht ganz falsch – mit diesem Tag bemüht man sich ja darum, den Engeln ähnlicher zu werden, also ohne Schuld und Sünde zu leben. Man trägt auch keine Lederschuhe an diesem Festtag.

Kurz vor Sonnenuntergang entzünden Anna Litvin und Jana Tegel die Kerzen im Gemeindesaal, parallel entzündet Bella Gusman sie in der Synagoge. Sie beten dazu das traditionelle Gebet "Baruch ata Ado-naj… – gesegnet seist Du, Gott, unser Gott, König des Universums, der uns geheiligt hat durch seine Gebote, und uns befohlen hat, das Licht des heiligen Jom a Kipurim zu entzünden".

Roman Melamed erklärt der Gemeinde die Bedeutung des Jom Kippur – wie immer auf Deutsch und auf Russisch. Alle Festtage des jüdischen Glaubens bezögen sich nicht unbedingt auf Ereignisse, sondern auf Einstellungen. Jeder Festtag sei deshalb einer bestimmten Einstellung bzw. Geisteshaltung gewidmet, Jom Kippur sei der Tag des Verzeihens.

Zwei Männer – angesehene Gemeindemitglieder – öffnen den Tora-Schrein und holen zwei schwere, sicherlich einen halben Meter große Tora-Rollen heraus. Sie sind geschmückt und mit silbernen Aufsätzen bekrönt. Die beiden stellen sich rechts und links von Vorbeter Roman Melamed auf. Gemeinsam sprechen sie dreimal das Gebet "Al da’at hamakom we’al da’at hakadal… – In der Ratsversammlung oben und in der Ratsversammlung unten, auf Beschluss Gottes und auf Beschluss der Gemeinde geben wir die Erlaubnis, mit den Sündern zu beten." Das bedeutet, dass jeder Jude, auch wenn er oder sie gesündigt hat, doch untrennbarer Teil des heiligen Volkes ist. Die Männer gehen mit den Tora-Rollen herum, alle Männer tragen den Tallit (= Gebetsschal). Mit einem der vier "Zizijot" (= Fäden) ihres Gebetschals berühren sie ehrfürchtig die Tora-Rolle – die Frauen sind in dieses Ritual nicht eingebunden.

Nun beten alle gemeinsam das Abendgebet "Kol Nidre" (= Alle Gelübde). Mit diesem Sprechgesang entbinden wir uns von allen Gelübden, die wir unüberlegt oder unwissentlich vor Gott abgelegt haben. Ein bewusst vor Gott gesprochener Eid behält natürlich seine Gültigkeit. Die Gemeinde steht, während das "Kol Nidre" dreimal wiederholt wird: "Alle Gelübde, Verbote, Bannsprüche, Umschreibungen und alles, was dem gleicht, Strafen und Schwüre, die ich gelobe, schwöre, als Bann ausspreche, mir als Verbot auferlege von diesem Jom Kippur an, bis zum erlösenden nächsten Jom Kippur. Alle bereue ich, alle seien ausgelöst, erlassen, aufgehoben, ungültig und vernichtet, ohne Rechtskraft und ohne Bestand. Unsere Gelübde seien keine Gelübde, unsere Schwüre keine Schwüre."

Es folgt das Beichtgebet, das die Sünden aufzählt, die wir möglicherweise begangen haben, und wir bitten um Vergebung. Dann betet man das "Awinu Malkenu – Unser Vater, unser König, wir haben gesündigt vor Dir". Mich erinnert dieses Bittgebet an die Litaneien in katholischen Gottesdiensten, etwa die Anrufung von Heiligen oder die Bittgebete bei Wallfahrten. Und wie eine Litanei ist auch dies ein langes Gebet.

Ne’ila – die Schließung

Das Abschlussgebet von Jom Kippur ist das "Ne’ila" (= Schließung). Es besiegelt das zu Rosch Haschana geschriebene göttliche Urteil. Man sagt, der Himmel sei für dieses Gebet besonders empfänglich. Das Gebet ist die letzte Möglichkeit, zur inneren Einkehr zu kommen. Mit dem Ende der Jom-Kippur-Feier tragen wir diese Einkehr in uns und mit nachhause – wir haben uns selbst und Gott versprochen, es im neuen Jahr besser zu machen als im alten. Drei Wege führen in ein Jahr, in dem der Erfolg "eingeschrieben und versiegelt" ist und sich der Wunsch von Rosch Haschana erfüllt: "Tschuwa" (= Einkehr im Sinne von Rückkehr zu sich selbst), "Tefilla" (= Gebet im Sinne von Bindung an Gott) und "Zedaka" (= Wohltätigkeit). Ihnen allen "Schana Towa" – ein gutes neues Jahr! (Jutta Hamberger)+++

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