Theater als Spiegelbild der Gesellschaft
Klassiker im Takt der Zeit: Wie Gil Mehmert die "Räuber" mit Punkrock auflädt
Archivfotos: Carina Jirsch
24.06.2025 / BAD HERSFELD -
Wenn Gil Mehmert über Theater spricht, dann spricht er über Bewegung – auf der Bühne, in den Köpfen und mitten im Herzen der Gesellschaft. Mit seiner Inszenierung von Schillers "Die Räuber" bringt er einen Klassiker in die Stiftsruine Bad Hersfeld, der aktueller kaum sein könnte. Und das mit einer Energie, die zwischen Sturm und Drang, Punk-Attitüde und politischer Relevanz changiert.
OSTHESSEN|NEWS hat sich mit dem Erfolgsregisseur getroffen – und dabei ganz persönliche Einblicke in sein leidenschaftliches Theaterverständnis erhalten. Am Freitag feiert "Die Räuber" Premiere in der Stiftsruine.
Kulturstrom in der Kurstadt
Mehmert ist nicht zum ersten Mal in Bad Hersfeld – und das merkt man. Der Regisseur kennt die Stadt und die Stiftsruine aus vorherigen Produktionen, und genau das prägt auch seinen Blick. Für Mehmert ist die Atmosphäre in Bad Hersfeld während der Festspiele einzigartig: Die Stadt verändere sich, werde regelrecht aufgeladen. Die Energie, die dann entstehe, sei nicht nur ein künstlerisches Phänomen, sondern auch ein gesellschaftliches. "Während der Festspiele herrscht in Bad Hersfeld eine besondere Stimmung", betont er: "Der Ort wird durch Kultur bereichert – das spürt man in jedem Moment." Punkrock trifft Klassiker
In Mehmerts Inszenierung von "Die Räuber" begegnet Schiller nicht nur der Kraft der Sprache, sondern auch der Wucht des Punkrocks – musikalisch getragen von Songs der Toten Hosen. Mehrere originale Titel der bekannten Punkrock-Band wurden eigens in die Inszenierung integriert. Die Darsteller singen die Stücke live auf der Bühne – kraftvoll, direkt und im Kontext der Handlung. Was auf den ersten Blick wie ein Stilbruch erscheinen mag, entpuppt sich schnell als raffinierter Kunstgriff.Punk lehnt gesellschaftliche Normen und Strukturen ab. Punk eckt an. Punk provoziert. Doch Mehmert gehe es keineswegs um bloße Provokation: Vielmehr gehe es um die inhaltlichen Tiefen. "Da steht ein großartiger Schiller-Text – und 200 Jahre später kommt eine Punkrock-Band, die mit ihrem Debütalbum die Gesellschaft herausfordert und die ältere Generation infrage stellt. Diese Parallelen sind faszinierend."
Ein Raum voller Möglichkeiten
Für Gil Mehmert steht bei seiner Inszenierung vor allem eins im Vordergrund: Bewegung und Lebendigkeit auf der Bühne. "Ich mag eine dynamische und effektive Inszenierung", sagt er – und das ist in seiner Arbeit spürbar. In der vertrauten Kulisse der Stiftsruine, die er "sehr gut kennt", hat der Regisseur ein Bühnenbild entwickelt, das ebenso reduziert wie wandelbar ist. Eine Schräge von hinten, keine monumentalen Aufbauten, dafür maximale Beweglichkeit: "Wir brauchen gar kein großes Bühnenbild. Wir haben versucht, die Dynamik zu betonen." So entsteht ein Raum, in dem Mehmert fast jedes Stück erzählen könnte – und doch ist alles ganz spezifisch auf Schiller und die Bad Hersfelder Festspiele zugeschnitten. "Die Idee ist im Kontext der Ruine entstanden. Es war ein Urknall, der alles Weitere mitentwickelt hat", so Mehmert. Theaterfamilie mit Herzblut
In Mehmerts Augen ist das Ensemble weit mehr als nur ein Zusammenschluss von Darstellern – es ist eine Theaterfamilie. Viele der Beteiligten haben bereits in früheren Produktionen mit ihm gearbeitet oder bei ihm studiert. "Wenn man eingespielt ist, beschleunigt das die Arbeit enorm", sagt Mehmert. Und doch ist auch viel Neues dabei: Die Rollen von Karl (Yascha Finn Nolting) und Amalia (Nora Schulte) wurden mit Schauspielern besetzt, mit denen Mehmert vorher noch nie zusammengearbeitet hat. Und dennoch: "Ein echter Glücksgriff." Besonders klar war für ihn hingegen die Besetzung des Franz: "Mir war sofort klar, dass David Jakob diese Rolle spielen muss." Auch Christof Messner in der Rolle des Moritz Spiegelberg stand für ihn früh fest.Die Dynamik des Ensembles sei dann fast wie von selbst gewachsen. "Ich kann mit diesen Darstellern sehr effektiv arbeiten", erklärt Mehmert. In den Proben sieht sich Mehmert ein wenig wie ein Fußballtrainer: "Ich stelle einen Stand her – und auf den bauen wir weiter auf. Alle kennen den letzten Stand, und darauf bauen wir einen neuen." Dabei gibt er nicht alles vor, sondern lässt Spielraum. "Ein Schauspieler gestaltet aus seinem Typus heraus die Rolle."
Zwischen Aufbruch und Abgrund
Am Ende steht ein Stück, das trotz – oder gerade wegen – seiner Wucht und Aktualität Fragen offenlässt. Es geht um Macht, Manipulation und Moral. "Alles wiederholt sich – der Mensch hat sich als Mensch leider kaum entwickelt", sagt Mehmert. "Das toxische Handeln von Franz ist vergleichbar mit Diktatoren unserer Zeit. Und der Populist Karl mit revolutionären Bewegungen, die sich im Spinnennetz ihrer Gedanken verfangen."
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