Teil 2 des Sommerinterviews

Prof. Karagiannidis zum Ambulanten Sektor: "Zeit für ein neues Denken"

Auch im ambulanten Gesundheitswesen sind Reformen dringend notwendig
Foto: Carina Jirsch

20.07.2025 / REGION - In der Region Osthessen merken die Menschen seit einigen Jahren, dass man auf Termine bei Fachärzten länger warten muss, als man es bislang gewohnt war. Zudem haben immer mehr Gemeinden Probleme, Hausärzte zu finden, die Praxen übernehmen wollen, die wegen Altersruhestand aufgegeben werden. Ein prominentes Beispiel war die Gemeinde Neuhof, die mehrere Jahre einen Allgemeinmediziner suchte und im September 2024 sogar den im Ruhestand befindlichen Dr. Esmaty reaktivieren musste.



Im ambulanten Bereich sieht Prof. Karagiannidis die größten Chancen, aber auch den größten Reformbedarf. Eine seiner Kernforderungen ist die Einführung eines sogenannten Primärarztsystems. In vielen Ländern wie Spanien, den Niederlanden oder Schweden ist dieses Modell längst etabliert: Der Primärarzt, meist ein Allgemeinmediziner oder hausärztlicher Internist, fungiert als erste Anlaufstelle des Gesundheitssystems und koordiniert die weitere Behandlung. Fachärzte werden nur bei Bedarf hinzugezogen.

"Wir haben in Deutschland die freie Arztwahl, was auf den ersten Blick sehr attraktiv klingt", sagt Karagiannidis. "Aber sie führt auch zu einer Anspruchshaltung, die das System überfordert." Ohne Steuerung wandern Patienten von Facharzt zu Facharzt, oft ohne dass diese Ärzte voneinander wissen. Das Resultat sind Doppeluntersuchungen, widersprüchliche Therapien und immense Kosten. "Ein gutes System zeichnet sich nicht durch maximale Wahlfreiheit aus, sondern durch Qualität und Effizienz", so der Mediziner. In Zukunft kommt dem Primärarzt eine Steuerungsfunktion zu. Er entscheidet, ob die Behandlung in der Hausarztpraxis ausreicht und zum Abschluss gebracht werden kann oder ob eine Überweisung zum Facharzt notwendig ist. Damit ist es für Patienten nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich, selbstständig Fachärzte zu konsultieren.

"Problem des Hausarztmangels ist lösbar"

Das Problem des Hausarztmangel und die Tatsache, dass diese keine Zeit für zusätzliche Aufgaben hätten, hält Karagiannidis für lösbar: "Man kann natürlich nicht einfach auf dem Papier auf Primärarzt umstellen und dann hoffen, dass es von alleine funktioniert. Die Digitalisierung und Vernetzung der Praxen muss in großen Schritten vorangetrieben werden. Damit hat der Hausarzt mehr Kapazität, seiner eigentlichen, ärztlichen Aufgabe nachzukommen.” In Regionen wie dem spanischen Katalonien werden gerade alle medizinischen Einrichtungen digital miteinander vernetzt. Der Hausarzt kann in Echtzeit sehen, welche Behandlungen der Patient bereits hatte. In Deutschland hingegen lägen viele Informationen immer noch nur in Papierform vor und seien damit unsichtbar für andere Behandler. Dafür wurden in Katalonien IT-Schnittstellen geschaffen, die eine Kommunikation zwischen allen Praxen und den Krankenhäusern erlaubt. "Es wäre wünschenswert, wenn in Deutschland Modellregionen entstehen, in denen ein solches System implementiert und getestet wird.” Für besonders geeignet hält der Mediziner in diesem Kontext den Stadtstaat Hamburg. Allerdings sei auch Hessen Vorreiter für ein solches Projekt. Hier habe man mit dem zentralen System IVENA, das den Rettungsdienst bei Klinikzuweisungen steuert, einen enormen Schritt in die richtige Richtung getätigt.

Mehr Kompetenz für Rettungsfachdienst und Pflegepersonal

Ein weiterer zentraler Punkt: Die Rolle der Pflegekräfte. In Deutschland dürfen Pflegekräfte nach wie vor kaum eigenständig medizinische Leistungen erbringen. Das ist in vielen Ländern anders. "In Skandinavien oder den Niederlanden impfen Pflegekräfte, übernehmen Wundversorgung oder überwachen chronisch Kranke. Diese Systeme funktionieren hervorragend." Doch in Deutschland steht dem ein tief verwurzeltes Arztlobbydenken entgegen. "Wir haben eines der arzt-zentriertesten Systeme der Welt – das blockiert dringend nötige Reformen. In Deutschland muss endlich dem pflegerischen Personal und dem Rettungsfachpersonal mehr Kompetenz und eigenständige Handlungskompetenz zugesprochen werden. Daher ist eine eigenständige Behandlung durch diese Berufe dringend notwendig.”

"Der Rettungsdienst hat die größte Kostensteigerung des gesamten Gesundheitssystems in den letzten Jahren zu beklagen. Immer mehr Rettungswachen entstehen und die Vorhaltung wird erhöht, um die Hilfsfristen einhalten zu können. Dabei wird lediglich die Transportleistung vergütet.” Der Mediziner beklagt, dass der Rettungsdienst zur Zeit neben dem reinen Transport keine medizinischen Leistungen wie Beratungen oder Behandlungen an der Einsatzstelle abrechnen könne. "Somit besteht ein Anreiz zum Transport. Wäre eine Leistung, die vor Ort erbracht wird, abrechenbar, würde man deutlichen Druck aus dem System nehmen. Dies wurde beispielsweise in Köln während der Pandemie durchgeführt und war ein großer Erfolg.” Um den Rettungsdienst in Zukunft besser zu steuern, sieht Karagiannidis die Leitstellen in der Pflicht. Beispielsweise könne eine KI eine Vorselektion treffen, um die Dringlichkeit des Notrufes einschätzen zu können. Neben einer einheitlichen Nummer für medizinische Notfälle sei es zudem an der Zeit, Apps zu nutzen, in die ein Hilfesuchender Symptome eingibt, um beispielsweise Gesundheitsdaten wie die Sauerstoffsättigung und das EKG, welches die Smartwatch aufgezeichnet hat, zu übermitteln. "Österreich geht hier seit vielen Jahren mit gutem Beispiel voran. Die Leitstellen wurden zentralisiert. Man geht damit einen anderen Weg als Deutschland, in dem viele Doppelstrukturen vorgehalten werden, weil nahezu jede Kommune eine eigene Rettungsleitstelle betreibt. Somit kann wenig Kompetenz gebündelt werden. Bei einem Einzugsbereich von einer Million Menschen kann man beispielsweise 24 Stunden ärztliche Telefonberatung anbieten oder einen Arzt per Video zur Beratung zuschalten. Ein Leitstellenkoordinator hat eine Ausbildung von drei Jahren und ist hoch spezialisiert.”

Zu viele kleine Krankenkassen

Ein weiteres Problem sieht Karagiannidis in der Struktur der Krankenkassen. Zu viele kleine Kassen, teilweise mit weniger als einer Million Versicherten, können durch einzelne teure Patienten wirtschaftlich massiv belastet werden. Er plädiert daher für eine Mindestgröße. Denn Fakt ist: Durch moderne Therapieoptionen und neue Medikamente können Behandlungskosten schnell in die Millionen gehen. Somit könnten kleine Kassen in Zukunft schnell in die Insolvenz rutschen. Dem Argument, dass Kassen aufgrund der Doppelstrukturen zusammengelegt werden müssen, erteilt der Wissenschaftler eine Absage: Wettbewerb sei laut Karagiannidis wichtig, aber der Spareffekt durch eine Reduktion auf 50 statt 100 Kassen sei begrenzt. Das liege daran, dass die Sachbearbeiter kaum reduzierbar sind. Der britische NHS zeige das Gegenteil: Ohne Konkurrenz drohe Trägheit und Ineffizienz. Dieser ist staatlich organisiert und steht aktuell vor enormen Herausforderungen, auch durch jahrelange Unterfinanzierung.

Das System der Unterteilung in eine gesetzliche und eine private Krankenkasse sieht Karagiannidis als reformbedürftig an. Er spricht sich klar für eine 100-prozentige Basisversicherung aus, ergänzt durch optionale Zusatzversicherungen. Somit enthält jeder Mensch in der Basisversicherung die gleiche und angemessene Versorgung innerhalb des Gesundheitssystems. Wer darüber hinaus beispielsweise Einzelzimmer oder Chefarztbehandlung wünsche, könne sich wie heute schon zusatzversichern. Damit wäre die "Zwei-Klassen” Medizin, wie sie aktuell teilweise betrieben wird, beendet. Leistungen wie Homöopathie sollten nicht mehr aus öffentlichen Kassen bezahlt werden. "Nicht weil sie teuer wären, denn das Einsparpotenzial ist bei der Homöopathie nicht besonders hoch, sondern weil sie wissenschaftlich nicht belegbar sind. Wir müssen evidenzbasiert denken, alles andere untergräbt das System."

Ein besonderer Vorschlag ist die Einführung von moderaten Selbstbeteiligungen. "In den Niederlanden gibt es eine Selbstbeteiligung von rund 200 bis 600 Euro pro Jahr. Das hat die Inanspruchnahme des Systems um zehn Prozent gesenkt." Karagiannidis betont, dass diese Regelung für alle gelten müsse, vom Säugling bis zum Senior. Es gehe nicht darum, Menschen zu belasten, sondern um einen bewussteren Umgang mit medizinischen Ressourcen. Er vergleicht dies gerne mit einer Versicherung für ein Auto: "Aktuell fahren die Menschen mit einer Vollkaskoversicherung ohne Selbstbeteiligung. Da weiß jeder: Der monatliche Beitrag wird richtig teuer. Erhöht man die Selbstbeteiligung ein wenig, wird die Versicherung billiger und man geht sorgsamer mit der Pkw um. Ähnliche Erfahrungen haben die Kollegen in den Niederlanden bereits gemacht. Wichtig ist, dass man dabei die Summe an die sozialen Bedürfnisse der Menschen anpasst, um zu gewährleisten, dass sich auch sozial Schwache eine Versorgung leisten können und keine Angst vor der Selbstbeteiligung haben müssen.” (Adrian Böhm)+++

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