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Predigt von Kardinal Rainer Maria Woelki

Eucharistiefeier zur Herbst-Vollversammlung im Dom - "Geschichten bilden"

Rainer Maria Kardinal Woelki predigte am Mittwochmorgen im Fuldaer Dom Rainer Maria Kardinal Woelki predigte am Mittwochmorgen im Fuldaer Dom
Alle Fotos: Martin Engel

28.09.2022 / FULDA - Am Mittwochmorgen wurde im Fuldaer Dom gemeinsam die Eucharistiefeier zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz gefeiert. In der Messe predigte Kardinal Rainer Maria Woelki. Seine Predigt hierzu im WORTLAUT:



"Liebe Schwestern, liebe Brüder, die Lesung des heutigen Tages ist dem alttestamentlichen Buch der Weisheit entnommen. Für eine Schrift des Alten Testaments ist diese überraschend jung. Zur Zeit Jesu, vielleicht sogar erst nach den ersten Schriften des Neuen Testaments soll sie im damaligen Bildungszentrum und kulturellen Schmelztiegel Alexandrien abgefasst worden sein. Die besagte Weisheit – wie sie diese Schrift besingt – ist jedoch wesentlich älter. Weisheitliche Texte finden sich schon mehr als zweitausend Jahre zuvor bei den Sumerern, bei den Akkadern und in Ägypten. Mündliche Überlieferungen reichen noch weiter zurück und verschwinden mit ihren Ursprüngen im Dunkel einer historisch gesehen quellenlosen Vorzeit.

Der Ägyptologe Jan Assmann kommt daher zu dem Schluss, dass "die uns vertraute Religions- und Geistesgeschichte der Menschheit, die in den Schriften der Bibel und der griechischen Dichter und Philosophen bis in die Anfänge von Bekenntnisreligion und Metaphysik zurückreicht, um weitere zwei Jahrtausende" verlängert werden müsse. Nach biblischer Überzeugung sogar bis zur Schöpfung. Theologisch gesehen ist die Weisheit nämlich schon bei der Schöpfung zugegen und durchzieht sie gänzlich. Die Weisheit, die in der Lesung so hochgepriesen und gelobt wird, sie offenbart sich in vielerlei Facetten: berufliche Fertigkeiten z. B., die in Schulen vermittelt wurden, zeitgemäße naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Wissen, das zu einem gelungenen, Glück verheißenden Leben anleitet und noch mehr. Hinter all dem steht eine weisheitliche, göttliche Schöpfungsordnung, die es zu erfassen gilt. Das ist die Grundüberzeugung. Wer diese Weisheit erkennt, tritt quasi ein in ein Gespräch mit Gott. Wer in die Erforschung der Weisheit eintaucht, wer sich somit selbst Weisheit erwirbt, der vermag dadurch auch die Freundschaft Gottes zu erlangen.

So bezeugt das unsere Lesung heute. Wer den Willen Gottes befolgt, bleibt in der Liebe Gottes. Der hat Gemeinschaft mit Ihm. So bezeugt es auch das Evangelium des heutigen Festtages. Denn Gott ist die Liebe – und die Weisheit schlechthin, das ist Christus selbst, der Logos. "In ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen" (Kol 1,16), heißt es etwa im Brief an die Kolosser. Die hl. Lioba, deren Fest wir hier und heute in Fulda feiern, hat der Liebe zur göttlichen Weisheit ihr Leben gewidmet. Schon ihr gotischer Spitzname – die Liebende, die Geliebte – deutet auf diese tiefe Beziehung, in der sie sich mit Gott verbunden wissen wollte, hin. Schon früh war sie von ihren Eltern in ein Kloster in Wimborne im heutigen England zur Erziehung gegeben worden. Dort erlangte sie umfassende Bildung und Weisheit. So umfassend wie es in der damaligen Zeit nur möglich war. Im Jahre 735 folgte Lioba dem Wunsch des hl. Bonifatius, gemeinsam mit ihm und seinen Gefährten im Gebiet des heutigen Deutschlands zu missionieren. In erster Linie geschah diese Art Mission durch die Ermöglichung von Bildung.

Ähnlich wie für Meister Eckhart bedeutet dabei auch für die hl. Lioba Bildung: das Bild Gottes, das jeder Mensch sein soll, wieder zum Vorschein zu bringen. Dazu "muss die Seele etwas Bildliches haben". Etwas, woran sie sich orientieren kann. Bildung entsteht aus den Bildern, die man Menschen vor Augen stellt. Sogar mit Worten kann man Bilder malen. Geschichten erzählen. Bildung geschieht, wo wir Menschen Geschichten erzählen. Geschichten, die zeigen, wie Menschen gut miteinander leben. Geschichten davon, wie Jesus mit den Menschen umgegangen ist. Aber auch Geschichten von Menschen, die gelebt haben, wie er es vorgemacht hat. Solche Geschichten bilden nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz. Die sie hören, können sich orientieren: So will ich das in Zukunft auch machen. Andere denken vielleicht: so geht es anscheinend nicht, ich werde es anders probieren. Dafür wurden Geschichten schon immer erzählt – damit die Zuhörer sich orientieren können. Am Lagerfeuer, in den Lichtstuben der Vergangenheit und in Wohnzimmern, an Kinderbetten.

Ich meine, gerade wir Christen sollten niemandem unsere Geschichten vorenthalten. Geschichten bilden. Wenn es gute Geschichten sind, prägen sie Menschen ein Bild ein. Das Bild des barmherzigen Gottes etwa. Nach diesem Bild hat Gott die Menschen geschaffen. "Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist", hat Jesus seinen Anhängern ans Herz gelegt. Und auch: "Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!" (Mt 7,12). Und er selbst hat mit seinem Verhalten gezeigt, wie Menschen aufblühen und frei und unbeschwert leben können, denn: "Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben." (Mt 5,5) Ich meine, wir Christen haben einen Schatz an Worten und Geschichten vor allem für eine Herzensbildung, die heute notwendiger denn je scheint. Diesen Schatz sollten wir unter keinen Umständen für uns allein behalten, sondern ihn – wie Lioba und Bonifatius – weitergeben an die Menschen unserer Tage. In unserem Reden und Verhalten können wir dann zeigen, wie sie wirkt, eine solche Herzensbildung. Und die hl. Lioba und der hl. Bonifatius hätten daran mit Sicherheit ihre Freude. Amen (pm/lh) +++

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