Großes OSTHESSEN|NEWS-Abschlussinterview

Beeindruckende politische Karriere von Michael Roth (SPD) geht zu Ende

Für Michael Roth (SPD) endet ein großer Lebensabschnitt. Nach knapp 27 Jahren endet seine Zeit im Deutschen Bundestag.
Fotos: Rene Kunze

20.02.2025 / BAD HERSFELD - Michael Roth (54, SPD), einer der profiliertesten Politiker der vergangenen Jahre, beendet nach knapp 27 Jahren seine Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter. OSTHESSEN|NEWS hat ihn zum großen Abschlussinterview getroffen. Dabei blickte er auf seine Politik-Karriere mit all den Höhen und Tiefen zurück, analysierte die derzeitige Lage im politischen Berlin und verriet zudem, wie groß die Freude ist, nicht zu wissen, welche Termine er in den nächsten Wochen hat.



Es ist beeindruckend, welche Karriere der in Heringen geborene SPD-Politiker hingelegt hat. Aus einer Bergarbeiterfamilie der kleinen Kalistadt stammend ging es für den 54-Jährigen bis ins Berliner Kabinett. Trotz dieser steilen Karriere blieb er für seine Wähler stets nahbar, viele konnten sich mit seinen politischen Zielen identifizieren. Doch wie schwer fällt ihm der Abschied aus dem Deutschen Bundestag? "Ich bin mit meiner Entscheidung vollkommen im Reinen. Ich freue mich auf das, was kommt, auch wenn ich noch nicht weiß, wohin mich mein Weg genau führt. Nach 27 Jahren beruflich neu anzufangen, ist auch für mich eine ganz neue Erfahrung", erklärt Michael Roth gegenüber OSTHESSEN|NEWS. Das Einzige, was bereits feststeht, ist, dass er derzeit ein Buch über seine Zeit als Abgeordneter schreibt, welches bereits im Juli erscheinen soll.

"Zusammenarbeit mit dem Team werde ich vermissen"

"Ich verhehle allerdings nicht, dass ich es vermissen werde, mit meinem unglaublichen Team zusammenzuarbeiten. Über all die Jahre habe ich enorm von dieser Teamarbeit profitiert. Sicher wird mir auch fehlen, nicht mehr so häufig angesprochen zu werden. Es hat mich immer geehrt, wenn Medien oder Menschen mich zu den unterschiedlichsten Themen befragt haben. Angst vor dem Bedeutungsverlust habe ich nicht. Ich habe gelernt, dass ich nicht vom Applaus der anderen abhängig bin", bilanziert der 54-Jährige.

"In einer Demokratie werden politische Ämter immer auf Zeit vergeben. Alle vier Jahre muss man sich selbst fragen: Will ich noch? Kann ich noch? Darf ich noch? Nach dieser langen Zeit in der Berufspolitik bin ich zu dem Entschluss gekommen: Ich will nicht mehr", erklärt Roth zu seinem Ausscheiden. "Seit 1919 hat es in der Region keinen Abgeordneten gegeben, der länger im Parlament gewesen ist als ich. Ich bin einer der Dienstältesten in meiner Fraktion. Es gibt zwar keinen perfekten Zeitpunkt für einen Abschied, aber ich bin noch jung genug, um eine neue berufliche Aufgabe anzugehen, auch wenn ich derzeit noch nicht weiß, wie diese aussehen wird", führt der gebürtige Heringer weiter aus.

Mauerfall 1989, das prägendste persönliche Erlebnis für Roth

Zu seiner persönlichen politischen Karriere ist ihm besonders das dritte Adventswochenende 2013 im Gedächtnis geblieben: "Mich rief Frank-Walter Steinmeier, damals designierter Außenminister, an einem Samstagabend an und fragte mich, ob ich Staatsminister im Auswärtigen Amt werden wolle. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Noch einschneidender war für mich aber der Mauerfall im November 1989. Da hat sich für unser Land, für die Region und auch für mich persönlich fast alles geändert. Das hat mich auch politisch geprägt. So wurde ich zum überzeugten Europäer, der für ein Europa der Grenzenlosigkeit eintritt."

Seine politische Karriere hätten ihm indes die wenigsten zugetraut, da gerade bei politischen Newcomern die Skepsis groß sei. Das mündet in den Satz: "Vom Kreißsaal über den Hörsaal in den Plenarsaal. Mir wurde es allerdings nicht in die Wiege gelegt, eine politische Karriere einzuschlagen." Das gab er auch in seiner letzten Bundestagsrede preis (O|N berichtete). "Auf der anderen Seite gab es immer wieder Wählerinnen und Wähler, die mich trotz meines jungen Alters bereits im Kanzleramt gesehen haben. Das hat mich immer tierisch genervt. Ich habe mich schon oft unter Druck gesetzt gefühlt, es gab immer eine große Erwartungshaltung an mich. Gerade in den ersten Jahren als Abgeordneter musste ich einige schmerzhafte Niederlagen einstecken. Erst relativ spät, mit 43 Jahren, wurde ich Staatsminister und danach Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses." Gerade der letzte Posten prägte Roth dabei sehr, allerdings verhehlt er im Gespräch mit O|N nicht, dass er zunächst enttäuscht gewesen sei, nach der Bundestagswahl 2021 nicht erneut Teil des Kabinetts gewesen zu sein.

Extrem viel Leid und Elend mitbekommen

Die Erfahrungen als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und gerade die persönlichen Besuche in der Ukraine nach Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 haben Roth verändert: "Aus Sicht mancher Menschen hier im Wahlkreis bin ich ungeduldiger geworden. Manchmal habe ich gesagt, was wollt Ihr eigentlich mit Eurem Problem. Nicht weit von uns herrscht Krieg, die Menschen in der Ukraine erfahren täglich großes Leid. Auf den ersten Blick klingt das vielleicht arrogant, allerdings haben sich meine Maßstäbe geändert, weil ich mit unheimlich viel Leid und Elend auf der ganzen Welt konfrontiert worden bin. Manche Bilder bekommt man einfach nicht mehr aus dem Kopf." Auch die Corona-Jahre haben Roth als sehr freiheitsliebenden Menschen sehr mitgenommen, wie er im Interview verrät.

Besonders seit dieser Zeit müsse die Demokratie wahrscheinlich ihre schwerste Prüfung bestehen. Das hat laut dem 54-Jährigen vielschichtige Gründe: "Ich hätte mir nie vorstellen können, dass der Verdruss über unser demokratisches System mal in der Mitte der Gesellschaft ankommen wird. Viele Menschen, die keine Rassisten oder Faschisten sind, sagen mir, dass vieles zu bürokratisch, zu schnell und zu unsicher geworden ist. In diese Lücke ist unter anderem die AfD gestoßen." Zudem blickt er mit großer Sorge darauf, dass der Antisemitismus in Deutschland vielerorts zurückgekommen sei.

Kaum Gemeinsamkeiten in der Gesellschaft

"Es gibt immer weniger Gemeinsamkeiten in der Gesellschaft, auf die wir uns verlassen können. Die Zeiten werden hektischer. Viele Menschen hegen den Wunsch nach Vereinfachung und Überschaubarkeit der komplexen Realität - und das bieten vermeintlich gerade Parteien wie die AfD oder das BSW. Dort wird das Gefühl erweckt, die 'gute, alte Zeit' könne wiederauferstehen. Aber das ist mitnichten so, es bedarf vieler Veränderungen. Den demokratischen Parteien ist es nicht gelungen, den Menschen die Ängste davor zu nehmen", bilanziert Roth. Zudem bröckele laut dem SPD-Politiker immer mehr der gesellschaftliche Kitt, der gerade im ländlichen Raum durch Vereine bestehe. "Nur durch das Kennenlernen und den Austausch kann man Vorurteile überwinden."

Dabei sieht Michael Roth auch eine Mitverantwortung der Politik: "Sowohl die Merkel-Jahre als auch die Scholz-Jahre haben ein großes emotionales Vakuum hinterlassen. Die Politik kommt vielen Menschen übermäßig bürokratisch und technokratisch vor, es ist eine gewisse Distanz da." Zugleich blickt er hinter die Kulissen und erklärt, dass die Zusammenarbeit in der Ampel-Koalition auf der Arbeitsebene deutlich besser funktioniert habe als zuvor in der Großen Koalition (2013-2021). "Dort haben sich allerdings die führenden Personen verstanden, was in der Ampel-Regierung nicht der Fall gewesen ist."

Erfolg ist immer nur im Team möglich

Doch neben der "großen Politik" gab es viele Erlebnisse im Wahlkreis, die Roth in Erinnerung geblieben sind: "Die Menschen waren immer sehr wohlwollend mir gegenüber eingestellt. Natürlich gab es viele positive Effekte für die Region: Fördermittel des Bundes für die Bad Hersfelder Festspiele oder den neuen Standort der Bundespolizei in Rotenburg. Doch es gab auch schmerzhafte Entwicklungen, wie beispielsweise das Aus der drei Bundeswehr-Standorte in der Region. Allerdings reklamiere ich die Erfolge nicht für mich alleine. Politik ist immer Teamarbeit, auch wenn das der ein oder andere Kollege in Berlin anders sieht. Damit ein Projekt gelingt, müssen viele Verantwortliche auf unterschiedlichen Ebenen zusammenarbeiten."

Zum Schluss des Interviews gab Roth nochmals persönliche Einblicke in seine Zukunft: "Ich bin viel '#ontheroth' gewesen, das ändert sich jetzt schlagartig. Die nächsten Wochen ohne einen prallgefüllten Terminkalender sind eine ganz neue Erfahrung für mich. Ich weiß noch nicht, wo ich in vier Wochen sein werde. Aber ich bin auch neugierig darauf, jetzt nochmal ein neues berufliches Kapitel aufzuschlagen." Der Region wird Michael Roth allerdings treu bleiben, das sei für ihn selbstverständlich.

OSTHESSEN|NEWS wünscht Michael Roth alles Gute für seine persönliche Zukunft und dass er in seinem neuen Lebensabschnitt glücklich und zufrieden werden möge. (Kevin Kunze)+++

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