War die Eskalation im Pflegeheim absehbar?

Angehörige melden sich: "Kein Vorwurf an das Personal, aber an die Chefetage!"

War die Eskalation im Pflegeheim in Mittelkalbach absehbar?
Foto: OlN/Moritz Bindewald

14.12.2024 / KALBACH - Wenn Angehörige oder man selbst pflegebedürftig wird, möchte man sich in optimaler Obhut wissen. Umgeben von professionellen Pflegekräften, die einen versorgen, betreuen und auch Zeit für individuelle Bedürfnisse haben. Dafür zahlen viele Betroffene viel Geld, auch, um ein würdiges Lebensende zu bekommen. Wie jetzt ans Tageslicht kommt, soll es in einem Seniorenzentrum in Mittelkalbach (Landkreis Fulda) seit Wochen und Monaten zu miserable Zuständen gekommen sein. OSTHESSENlNEWS hat mit den Familien der Bewohner gesprochen.



Die Situation eskalierte am Abend des 9. Dezembers, bevor ein Pflegedienstmitarbeiter den Notruf wählte und um Hilfe rief. Ein Zusammenschluss von Angehörigen war laut eigenen Aussagen vor Ort. Jetzt berichten sie von den katastrophalen Zuständen im Haus. Schnell wird klar: es gibt keine Möglichkeit, die Familienmitglieder in andere Einrichtungen zu bringen (fehlende Plätze in der Region), daher habe man diese Situation notgedrungen mitgetragen. Aber lesen Sie selbst:

Die "erheblichen Unterbesetzung an Pflegefachkräften" habe man bereits vor dem 9. Dezember bemerkt. "Teilweise soll in einer Schicht nur eine Pflegekraft vor Ort gewesen sein. Ebenso wurde das Fehlen von Inkontinenzmitteln bemerkt und privat angeschafft. (...) Trotz dieser eigentlich untragbaren Zustände, wurde in den zwei Wochen vor dem 9. Dezember der 2. Stock in der Einrichtung nach und nach mit pflegebedürftigen Angehörigen belegt, ohne den ohnehin nicht ausreichenden Personalschlüssel zu erhöhen. Dort sei es mindestens einmal zu einem Zusammenbruch einer Pflegekraft gekommen, die während der Essensausgabe einfach umgekippt sei.

Am Montagabend eskalierte die Lage

In der Woche vor dem 9. Dezember habe wohl die Heimaufsicht diese Überbelegung gestoppt, so berichteten Teile des Pflegepersonals und es kam ohne Einhaltung von Fristen zu Kündigungen einiger Bewohner. Andere wurden in den 1. Stock verlegt. Gerade Patienten mit einer Demenzerkrankung dürfte diese Verlegung völlig überfordert haben. Wege zum eigenen Zimmer sind plötzlich andere, Tischnachbarn erkennt man nicht mehr. In eine solche Situation ließ man die Bewohner und das Pflegepersonal laufen und so kam es wohl zu der Situation am Montagabend, die von nur zwei Pflegekräften nicht mehr zu handeln war."

Anschließend sollen sich dramatische Szenen abgespielt haben: Durch Hilferufe und Hilfeschrei soll eine Mehrzahl (laut Angaben 44) der Bewohner auf ihre Situation aufmerksam gemacht haben. "Eine Person kam mit ihrem Rollstuhl nicht vom Fleck, eine andere Bewohnerin zog sich aus, verschiedene riefen am Tisch sitzend, sie hätten Hunger, andere riefen, sie müssten dringend zur Toilette, dort zerbrach ein Glas am Tisch und hier versuchte man die Frischhaltefolie von verschiedenen Tellern zu entfernen. Dazu die Notrufe per Knopfdruck aus den Zimmern. Dies alles sollten zwei Pflegefachkräfte handeln. Völlig unmöglich. Zudem waren in der 2. Etage noch immer vereinzelte Bewohner, die auf Essen warteten, auf ihr Zubett-bringen, oder Hilfe benötigten, um ihr Zimmer zu finden. Dies bedeutet, dass teilweise sogar nur eine Pflegekraft, die aus dem Ruder gelaufene Situation in der ersten Etage meistern musste", heißt es von den Angehörigen.

"Rettungsdienst und Gefahrenabwehr finden in Urin liegende Bewohner vor"

Nach dem Absetzen des Notrufes und dem Eintreffen des Mitarbeiters der Gefahrenabwehr und des hinzugezogenen Rettungsdienstes sollen diese, gemeinsam mit den anwesenden Angehörigen, versucht haben, etwas Ruhe in die eskalierte Situation zu bringen. "Aufgrund der unzähligen Notrufe ging man auch in die Zimmer und fand dort mehrere Bewohner, die ohne Inkontinenzmittel in ihrem Urin lagen. In diesem Zusammenhang kam es auch zum Sturz einer Bewohnerin, die ins Krankenhaus gebracht werden musste. Mindestens eine Stunde lang versuchte der Mitarbeiter der Gefahrenabwehr vergeblich verschiedene zuständige Personen in Leitungsfunktion der Einrichtung zu erreichen. Ohne das Wissen darum, dass kaum genügend freie Plätze für alle Kalbacher Bewohner vorhanden wären und zudem eine Verlegung den bereits völlig gestressten und überforderten Bewohner noch mehr abverlangt hätte, wäre die Einrichtung sicherlich am Montagabend geräumt worden.

Wo liegt hier der Fehler? Sicherlich nicht am Ende der Kette beim Pflegepersonal. (...) Es sind nicht nur Bewohner dort, die keine Angehörigen haben in solchen Einrichtungen, es sind auch Menschen dort, um die sich einfach niemand kümmert. (...) Menschen in Einrichtungen, die man auch oft schweren Herzens abgeben muss, da man es zu Hause nicht mehr schafft, gehört ein Anspruch auf liebevolle und fachlich kompetente Betreuung, die nicht getrieben wird von Verdienst, sondern Empathie."

"Man bekommt Angst, alt und pflegebedürftig zu werden"

Ronja M. (Name von der Redaktion geändert) hatte ihre Oma zur Kurzzeitpflege in Mittelkalbach untergebracht: "Wegen des ein oder anderen offenen Punkts wollten wir als Angehörige uns gerne mit einer Person aus der Verwaltung kurz schließen, um verschiedenes organisatorisches abzuklären. Da wir täglich vor Ort waren, schauten wir immer mal wieder in den Verwaltungsbüros vorbei. Hier war es grundsätzlich immer dunkel und die Büros waren abgeschlossen. Ebenfalls im Café im Eingangsbereich. Während der gesamten Woche war hier niemand. Offensichtlich Selbstbedienung ohne Bezahlung… ?! (...) Es ist uns nochmal wichtig zu sagen, dass die Pflegekräfte, die da waren, immer sehr nett waren. Man hatte ihnen angemerkt, dass sie sehr viel zu tun hatten und nicht genug Zeit für jeden einzelnen Patienten hatten, aber dennoch waren diese immer den Umständen entsprechend sehr freundlich und bemüht."

Leon A. (Name von der Redaktion geändert) hatte seinen Onkel nach einem Krankenhausaufenthalt im November 2024 zur Kurzzeitpflege in Mittelkalbach untergebracht: "Er kann ohne Hilfe nicht alleine aus dem Bett, um die Toilette aufzusuchen. Wenn er klingelt, dauert es, bis eine Pflegekraft dann endlich mal erscheint. Unsere Tante war am Montag wie jeden Nachmittag bei ihm. Als sie zu seinem Zimmer kam, sah sie schon die rote Leuchte vor seinem Zimmer. Er hatte schon ein paar mal geklingelt, aber niemand ist gekommen. Also hat sie ihm geholfen und hat noch mehrmals den Knopf betätigt. Es hat sich immer noch nichts getan. Diese Umstände sind unzumutbar. Wie soll das alles noch weitergehen? Da bekommt man ja regelrecht Angst, alt und pflegebedürftig zu werden."

"Wir machen dem Personal kein Vorwurf, aber der Chefetage!"

Die Oma von Anna M. (Name von der Redaktion geändert) wohnt aktuell im Artecare Seniorenzentrum in Mittelkalbach: "Ich finde es mega, dass diese ganze Sache mal endlich an die Öffentlichkeit gerät. Man hat sich ja immer mal beschwert, sei es bei der ursprünglichen Menetatisleitung oder jetzt bei der Interims-Heimleitung. Immer heißt es 'bla bla, wir kümmern uns …', aber es passiert nichts. Die Bewohner verlieren an Gewicht, meine Oma hat seitdem sie da ist über zehn Kilo in einem Jahr abgenommen - alle anderen Bewohner ebenfalls im Vergleich zu vorher. Es sind extrem lange Wartezeiten, bis die Bewohner aus den Zimmern geholt werden, angezogen bzw. ausgezogen oder zu Tisch für ihr Essen gebracht werden. Das Essen ist meist dann schon kalt. Um halb 10 gibt es zudem erst Frühstück, obwohl Medikamente schon früher auf nüchternem Magen eingenommen werden müssen. Und dann gibt es um 12 schon Mittag, aber da hat keiner mehr Hunger. (...) Den Personalmangel gab es schon von Anfang an, seit November letzten Jahres. Aber meine Oma schwört auf das Personal. Die können nichts dafür, die reißen sich wirklich alle den Arsch auf, aber die haben am Ende leider nur zwei Hände. Daher machen wir dem Personal kein Vorwurf, sondern der Chefetage, die das alles nicht interessiert, das Personal schlecht einteilt und alles auf ihrem Rücken austrägt. Dabei kostet es auch ein Schweinegeld und man will doch am meisten, dass die eigenen Angehörigen dort gut versorgt werden."

Lea R. (Name von der Redaktion geändert): "Meine Mutter war eine der ersten Bewohner in Kalbach. Rausgeholt haben wir sie im Januar 2024. Die Zustände dort sind menschenentwürdigend. Wer zu viel klingelte, dem wurde der Klingelknopf abgestellt und wurde von Pflegern beschimpft, dass sie das bitte sein lassen sollte. Meine Mutter lag oftmals in ihren Exkrementen, wenn wir kamen. Sie war im After wund bis aufs Fleisch und hatte fürchterliche Schmerzen. Seit Februar pflegen wir nun zusammen meine Mutter und das mit Erfolg. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie keine wund gelegenen Stellen mehr und seit drei Monaten sind wir den Urin-Katheter los. Obwohl die Chefetage und der Name des Hauses geändert wurden, haben sich die Umstände nicht verbessert, auch sind von dem ganzen Pflegepersonal, was im September `23 dort angefangen hatte zu arbeiten, bis auf zwei Personen alle weg, da sie diese extremen Stress-Situationen nicht mehr ertragen konnten und viele kurz vom Burn-Out waren." (Nina Seikel) +++


Symbolfoto: pixabay

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