Die Shoa begann mit Worten
Zeitzeugin Eva Szepesi im Gespräch: Bewegend, wichtig, historisch
Fotos: Erik Spiegel
04.12.2025 / FULDA -
Es gibt Abende, die sind wichtig, es gibt Abende, die sind bewegend, und es gibt Abende, die sind historisch. Der gestrige Akademieabend im Bonifatiushaus mit der 94-jährigen Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi war alles zusammen. Wer dabei war, wurde tief im Herzen angerührt.
Zu Gast war nicht nur Eva Szepesi, sondern auch der jüdische Fotograf Rafael Herlich und Autor Hans Riebsamen – gemeinsam haben die beiden das Buch "Nie gefragt – nie erzählt. Das vererbte Trauma in den Familien der Holocaust-Überlebenden" verfasst. Herlich, in Israel geboren und seit 1975 in Frankfurt lebend, dokumentiert jüdisches Leben in Deutschland und hat dem ehemaligen FAZ-Redakteur Riebsamen die Tür zu Holocaust-Überlebenden geöffnet. Der führte Gespräche mit ihnen, ihren Kindern und ihren Enkeln – all dies dokumentiert dieses wahrhaft berührende Buch. Zeitzeugengeschichten, die heute notwendiger sind als jemals zuvor.
Schweigen, Verdrängen und Engagement
In seiner Begrüßung stellte Akademiedirektor Gunter Geiger die Gäste vor, dann führte Rafael Herlich ein Foto-Collage mit jungen Besuchern im Konzentrationslager Auschwitz und Holocaust-Überlebenden vor. Im KZ sind es Bilder des Trauerns und Erinnerns, von den Überlebenden sind es Fotos von Festtagen und Feststunden wie Hochzeit, Geburtstag oder der Bar Mizwa. Mit libshaft vel ikh rufn dikh Mamele (voller Liebe will ich dich rufen, Mütterchen),
A golden harts hostu (ein goldenes Herz hast du),
un yeder kind farshteyt (und jedes Kind versteht das).
"Irgendwann werden wir nicht mehr da sein"
Zwei Lebensgeschichten wurden vorgestellt, die Theaterpädagogin Katharina Fertsch-Röver las sie vor – sie war kurzfristig für Eva Szepesis Tochter Anita eingesprungen, die erkrankt war und diesen Part sonst übernommen hätte.Eva Szepesi hat 50 Jahre überhaupt nicht über ihre Lebens- und Leidensgeschichte gesprochen. Nicht darüber, wie sie 1944 als 12-Jährige nach Auschwitz deportiert wurde. Nicht darüber, dass sie ihre Puppe nicht mitnehmen durfte. Nicht darüber, dass man ihr bei Ankunft die von der Mutter gestrickte blaue Jacke abnahm und die Zöpfe abschnitt. Nicht darüber, dass sie sich als 16-jährige ausgab, um an der Rampe nicht in den Tod selektiert zu werden. Erst spät fand Eva Szepesi zu ihrer neuen Lebensaufgabe als Zeitzeugin. Und das gab sie uns mit: "Ihr seid nicht schuldig, aber ihr seid verantwortlich für das Erinnern. Schaut genau hin, glaubt nicht alles, informiert euch, denkt alleine, denn irgendwann werden wir nicht mehr da sein." Auch sie berichtete, wie anders das Leben jüdischer Deutscher nach dem 7. Oktober geworden sei – "die Freunde sind verstummt".
"Mein Vater ist immer im Holocaust geblieben"
Berührend auch die Geschichte Rafael Herlichs. Er erfährt eher zufällig, dass er einen Halbbruder hat. Sein Vater Emanuel hatte diesen und seine Mutter allein gelassen – eine Geschichte, die auch Rafael so erlebt hatte. Auch ihn und seine Mutter hatte der Vater verlassen. Über sein Schicksal konnte Emanuel Herlich nie sprechen, er schwieg sein Leben lang. Seine erste Frau und sein Sohn wurden vor seinen Augen ermordet. Die schrecklichen Geschehnisse und der Überlebenskampf in den Lagern führte dazu, dass er lebenslang in der Furcht lebte, geliebte Menschen erneut verlieren zu müssen. "Jede neue Liebe wurde von dem alten Verlustschmerz überwältigt", so Rafael Herlich. Über Begegnungen mit seinem Vater sagte er, das Schweigen zwischen ihnen sei sehr laut gewesen – sein Vater habe den Holocaust nicht überlebt, sondern sei immer im Holocaust geblieben.Die Geschichte seines Vaters führte dazu, dass Herlich sich intensiv mit Holocaust-Überlebenden beschäftigte und es sich zur Lebensaufgabe machte, über die zu berichten, "die durch die Hölle des Judenmordens gegangen sind und sie überlebt haben".
Gegen den Tsunami aus Antisemitismus
An anderer Stelle im Buch heißt es, als Jude dürfe man sich nie völlig sicher fühlen – ein Gefühl, das sich aus den Verfolgungs-Erfahrungen der Großeltern-Generation speist. "Es ist die Aufgabe der dritten Generation, die Geschichten der Überlebenden, die sie noch aus erster Hand erfahren haben, zu bewahren und weiterzugeben." Rafael Herlich gab den Zuhörer:innen des Abends als Botschaft und Aufgabe mit: "Jeder kann etwas gegen Antisemitismus tun – denn es ist die Pflicht von jedem einzelnen von uns, in Frieden und Respekt miteinander zu leben." (Jutta Hamberger) +++