Literatur im Stadtschloss

Im traurigen Heiterkeitsrausch

Dana von Suffrins Roman erzählt eine Familiengeschichte zwischen München und Tel Aviv
Alle Fotos: Martin Engel

22.05.2025 / FULDA - Familie ist ein oft strapazierter Begriff. In der Regel wird er überhöht und aufgeladen als das größte, schönste und wichtigste ‚Wir‘, dass es gibt. Wir alle wissen – das kann so sein, muss aber nicht. Deshalb ist es unglaublich erholsam, Dana von Suffrins Familienroman zu lesen, in dem alle Familienmitglieder nicht zueinander hin, sondern voneinander weg streben. Hier gibt’s keine Harmonie, sondern Dysfunktionalität.


Schweres leicht hingetupft

Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld stellte den Gast aus München dem wie immer zahlreich erschienenen Publikum vor. Dana von Suffrin sei eine Autorin, die ausgesprochen vielfältig arbeite. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Jüdischen Geschichte und Kultur sowie der Literaturwissenschaft habe sie 2017 mit einer Arbeit über den Botaniker Otto Warburg promoviert und danach am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der LMU München gearbeitet. "Wie gut für uns, dass Sie sich fürs Schreiben entschieden haben", freute sich der OB für uns alle – 2019 erschien der vielgelobte Erstling "Otto", für den von Suffrin gleich sechs Literaturpreise einheimste. Es folgte ein Hörspiel, 2024 dann der Roman "Nochmal von vorn".

Sagen wir es so: Dana von Suffrin eroberte die Fuldaer Herzen mit ihrem Charme und ihrem Roman im Sturm. Besonders schön: sie las zwar auch zwei Kapitel aus ihrem Buch, erzählte aber ansonsten viel über die Hintergründe der Personen und Geschichte. So wurde aus der Lesung eine Erzählstunde im Plauderton, und die Zeit verflog wie im Nu.

Im Zentrum des Romans stehen die sehr ungleichen Schwestern Rosa und Nadja. Ihr Vater Mordechai ist gerade verstorben, die Mutter Veronika ist seit Jahren verschollen. Nadja ist irgendwo in der Welt unterwegs, Rosa ist in München mit der Ordnung des Nachlasses beschäftigt. Die Familie Jeruscher ist ein ziemliches Durcheinander aus siebenbürgischen, israelischen und deutschen Mitgliedern jüdischen und katholischen Glaubens. Sie alle haben viele Sehnsüchte und Träume – meist unerfüllt oder geborsten. Sie streiten viel und ausgiebig, das ist ihre Art der Kommunikation. Sie suchen nach Heimat, die doch irgendwo sein muss. Sie sind sich gleichzeitig nah und fern, sie tragen das Leid eines ganzen Jahrhunderts voller Flucht und Vertreibung in sich. Im Roman heißt es: "Ich weiß nicht, wer uns alle durch die Geschichte schmettert und uns an den blödesten Orten aufkommen lässt."

Wie in einer Familienaufstellung treten die Haarrisse und Abgründe zutage. Dana von Suffrin: "Deine Geschwister wissen, wer Du eigentlich bist", denn Geschwister seien die erste und längste soziale Beziehung, die jeder von uns habe, man sei in einer Beziehung, aber oft auch in Konkurrenz zueinander oder neidisch aufeinander, verstünde aber Bezüge und Kontexte sofort und sei sich in bedingungsloser Liebe zugetan.

Wenn Sie jetzt denken, Ogottogottogott, mal wieder eines dieser düsteren, schwermütigen Bücher, kann ich Sie beruhigen: Nö, keineswegs. Wir sind hier eher bei Woody Allen als in bleierner Schwere. Man lacht, lächelt und prustet ziemlich viel beim Lesen, obwohl wir mit Hardcore-Themen beschossen werden. Und man ahnt früh, was Dana von Suffrin meinte, als sie Humor als ihren Bewältigungsmechanismus bezeichnete. "Trauriger Heiterkeitsrausch" heißt das einmal im Roman, ich finde, das trifft die Tonalität dieses wunderbaren Buchs sehr gut.

Erinnerte Familienfragmente

Dana von Suffrin erzählt nicht linear, sie lässt die Geschichte der Familie Jeruscher in Fragmenten emporsteigen. Das sei, sagt sie uns, ihre Art des Erzählens, mit klassisch-linearen Narrativen habe sie es nicht so. Eben noch sind wir in der Münchner Hochhaussiedlung, dann im Siebengebirge bei den Großeltern, oder in Tel Aviv. Eben begegnen wir dem Onkologen, der aussieht wie ein arisches Abziehbild, dann lesen wir vom Schmerz der Eltern, die ihre Kinder in den Jom-Kippur-Krieg ziehen lassen müssen. Eben noch sind wir in der NS-Zeit und der zweiten Wiener Erklärung des Jahres 1940, dann bei Rosas Großmutter Zsazsa im Pflegeheim in Tel Aviv.

Es kommt permanent anders, als man denkt – und auch anders, als die Romanfiguren denken. Es ist unordentlich, versteckt, verheddert. Nicht von ungefähr verglichen manche Rezensenten den Roman mit russischen Matrioschkas. Das passt gut für die verschiedenen Identitäten und Facetten der Figuren, die nach und nach aufscheinen.

Die Welt ist nicht mehr die gleiche nach dem Weinen

In dieser Familie wird über alles gestritten und gesprochen, nur nicht über das große Trauma des 20. Jahrhunderts. Der Holocaust, dessen Spuren noch immer schmerzhaft erfahrbar sind, dessen Wunden einfach nicht verheilen, vergiftet auch die Gegenwart – aber niemand spricht darüber. Man kann von Suffrin gar nicht genug dafür danken, dass sie einen anderen Weg wählt als weihevolles Bekennen oder schwer erträgliches Moralisieren. Sie ist, so Frank Dietschreit in Radio 3, "eine Meisterin der literarischen Täuschung, eine listige und lustige, historisch beschlagene und literarisch ausgefeilte Erzählerin. Ihre ironische, oft skurrile und groteske Erzählweise ist getränkt mit bitterbösem, jüdischem Witz und schwarzem Humor."

Wer lacht, kann sich versöhnen – mit sich selbst, mit der eigenen Familie, mit den Monstrositäten und Absurditäten der Welt. Natürlich gibt es auch glückliche Momente, aber um die geht es nicht. In der Sendung Capriccio sagte Dana von Suffrin über sich und ihr Buch: "Mein Erkenntnisinteresse ist, nachzuzeichnen, wie jemand unglücklich wird." Ein literarischer Topos, den wir mindestens seit Tolstois "Anna Karenina" schätzen. Glück wird halt schnell langweilig, Unglück ist dauerhaft interessant und berührend.

Der Titel des Romans habe ihr anfangs gar nicht gefallen, erzählte Dana von Suffrin. Das sei eigentlich nur der Name ihrer Word-Datei gewesen, die sie ja irgendwie habe benennen müssen. Inzwischen fände sie ihn aber ziemlich gut, denn er stehe für eine Bewegung und zeige, wie verworren das Leben oft sei. Vielleicht benennt der Titel aber auch eine zweite Bewältigungsstrategie: Wenn das Leben derart unordentlich und chaotisch ist, muss man es immer wieder neu ordnen und dabei zurechtzupfen, damit man besser klarkommt.

Nach ihrem ersten Roman "Otto" habe ein Journalist sie gefragt, ob sie nun immer das Gleiche in Variationen schreiben würde. Die Frage habe sie damals nicht beantworten können, sie sei heute davon überzeugt, sogar wenn sie über einen der Fuldaer Fürstbischöfe schreiben würde, würde sie wieder bei einer Familiengeschichte landen, denn die könne man unendlich variieren. Nach Lesen, Erzählen und Signieren freuten sich die Besucher/innen wie immer über den literarischen Plausch bei Wein und Brez’n – diesmal gespendet von Helmut und Traudl Sorg. Und ich nehme mein persönliches Zitat aus dem Roman mit in mein Leben, weiß ich doch dank Dana von Suffrin endlich, dass ich über "periphere Küchenkenntnisse" verfüge. (Jutta Hamberger) +++

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