Literatur im Stadtschloss
Stäffele, Lieder und Frauenfreundschaften: Lesung von "Der Chor"
Fotos: Sabine Abel
08.05.2025 / FULDA -
Die Stuttgarter "Cantarinen" sind ein Laien-Frauenchor. Geleitet wird er von wechselnden Studentinnen der Musikhochschule, das Repertoire setzt sich aus Lieblingsliedern der Mitglieder zusammen. Das ist zwar dem Niveau nicht unbedingt zuträglich, macht den Sängerinnen aber Spaß. Um Musik und Singen geht es in Anna Katharina Hahns Roman "Der Chor" aber ohnehin nur vordergründig.
Ein Post-Corona-Roman
Das zentrale Thema des Romans ist Freundschaft und die Frage, wie man Krisen und Belastungen in einer Freundschaft aushält. Natürlich spielt auch Stuttgart als Stadt eine wesentliche Rolle. Denis Scheck hat in seiner Besprechung des Romans konstatiert, Stuttgart sei gleichzeitig "unfassbar reich und unfassbar hässlich" genau das thematisiere die Autorin hier. Wer einmal länger dort lebte, weiß, wovon er spricht!
Ein Chor als Sinnbild der Gesellschaft
Als Leserin muss man mindestens über zwei Klippen: Stuttgart ist womöglich nicht für jeden ein Sehnsuchtsort, schwäbische Lebensart, Kulinarik und Sprache noch viel weniger. Womöglich stolpern Sie aber auch darüber, dass der Chor hier als Spiegel der Gesellschaft herhalten muss und damit zu einem Konstrukt wird. Die Autorin sagte im FAZ-Podcast anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2024: "Der Chor könnte ein Modell dafür sein, dass man allein oft nicht weiterkommt, dass es schrecklich klingt, wenn jede versucht, Solo zu singen oder sich aus diesem harmonischen Gemeinschaftsklang herauszuheben." Alles, was an hellen und dunklen Strömungen in der Gesellschaft zu erleben ist, überträgt die Autorin auf ihren Chor. Ich empfand es als eine leicht ausgetretene Metapher.Zu Chor und Stuttgart schiebt Anna Katharina Hahn aber auch noch klassisch ‚weibliche‘ Themen in den Roman. In "Der Chor" wird geholfen und bemuttert, dass es eine Pracht ist. Weibliche Hilfsbereitschaft in allen Facetten durchzieht den Roman wie ein roter Faden.
Jede Sängerin eine Botschaft
Die Personen des Romans sind durch dieses Setting keine spannenden oder vielschichtigen Charaktere, sondern eher ‚Botschafterinnen‘. Alice, die Erzählerin und Hauptfigur, ist ein Kontrollfreak. Sie ist Personalchefin im Breuninger und hat eine Aufsteiger-Biografie par excellence hingelegt. Ihren Status akzentuiert sie gern mit teuren Accessoires. Sophie hingegen ist ‚Lady Chaos‘. Die junge Studentin ist in allem Alices Gegenteil: unsicher, chaotisch, mit einer Riesenvoliere voller Erlenzeisige und außerdem auch noch zahmen Mäusen in der Wohnung. Sie weckt in Alice Beschützerinstinkte – wie mütterlich und wie erotisch die tatsächlich sind, bleibt der Interpretation der Leserinnen überlassen. Eine kraftlose Playlist
Die Chorprobe ist für alle Frauen der Höhepunkt der Woche. Man fragt sich unwillkürlich: Echt jetzt? Mehr haben die nicht? Und warum zur Hölle ändern sie das dann nicht? Das Repertoire des Chors zieht sich als Soundtrack durch den Roman (und ist auf Spotify als Playlist abrufbar). Die Lieder kennen Sie bis auf die estnischen Lieder der Chorleiterin sicher fast alle, gesungen werden deutsche Volkslieder und Folksongs, Kirchenlieder und Popsongs bis hin zu Schlagern. Anna Katharina Hahn hat in einem Interview gesagt, für sie sei weniger die Melodie als der jeweilige Text entscheidend gewesen, auch, weil sie musikalisch wenig beschlagen sei. Vielleicht kommt daher die arg gefällige, mainstreamige Auswahl.Die Lieder bezeichnen den sozialen Status, die Sozialisation und den Bildungshorizont jeder Sängerin. Anna Katharina Hahn dazu: "Die Lieder charakterisieren die Frauen, sie sind Stücke ihrer Biografien und zeigen Innenleben, begleiten sie durch den Roman, beleuchten ihre Freundschaften, auch die schwierigen Beziehungen." Parallel zu den Liedern gibt es auch noch literarische Bezüge und Zitate – von Thomas Mann bis Joseph Roth, von Wilhelm Genazino bis zur Romantik mit Brentano, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. Das Publikum im wie immer sehr gut besuchten Fürstensaal spendete freundlichen Beifall, ließ sich Bücher signieren und widmete sich dann bei Wein und Brez’n dem literarischen Plausch. (Jutta Hamberger) +++