Gegen das Vergessen: Wir sagen ihre Namen
Geschichte zweier bisher unbekannter Deportationsfotos aus Fulda
Eines der beiden neu aufgefundenen Fotos der Deportation Fuldaer Juden am 08.12.1941
© #LastSeen und Stadtarchiv Fulda
25.01.2025 / FULDA -
Sicher war es das erste Mal, dass die Stadt Fulda eine Veranstaltung für zwei Fotos abhielt: Im gut besuchten Marmorsaal des Stadtschlosses wurden zwei bislang unbekannte Fotos der Deportation Fuldaer Juden am 08. Dezember 1941vorgestellt.
Dunkles Kapitel unserer Geschichte im Marmorsaal
Dr. Heiler begrüßte unter anderem den Vorstand der Jüdischen Gemeinde mit Bella Gusman und Anna Litvin, Anja Listmann, die Beauftragte für Jüdisches Leben in Fulda, Tina Enders, die Antisemitismus-Beauftragte der Hochschule Fulda und Ellie Roden, die Großnichte von Sally Strauss aus Bad Salzschlirf. Aus Israel war Eden Shahar angereist, und aus Berlin waren Dr. Alina Bothe und Lisa Paduch von #Last Seen gekommen. #LastSeen hat sich zum Ziel gesetzt, alle Fotografien von NS-Deportationen zu erfassen und zu erschließen.
"Die Pracht des Marmorsaals steht in starkem Kontrast zu dem dunklen Kapitel deutscher und fuldischer Geschichte, um das es heute geht", so Dr. Heiler. Und doch sei dieser Ort genau der richtige, denn im Stadtschloss wurde nicht nur repräsentiert, es war auch Sitz der Verwaltung. So war die Meldebehörde hier untergebracht, die sehr schnell eine Jüdische Meldekartei erstellte – ein bewusster Akt der Ausgrenzung.
Ein Foto als zentraler Moment der Vernichtung
Lisa Paduch, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei #LastSeen, zeigte anhand von drei Deportationsfotos aus Lörrach, Eisenach und Kitzingen, warum es so wichtig ist, diese Fotos nicht nur zu betrachten, sondern auch zu erschließen. "Sie zeigen einen zentralen Moment der Vernichtung. Hier werden Straßen, Plätze, Häuser, Gaststätten und Orte zu Tatorten – mit einer direkten Verbindung in die Vernichtungslager", so Paduch. Auf fast allen Bildern könne man ein Dreieck aus Tätern, Zuschauern und Verfolgten erkennen: "Die Täter schaffen die Situation, die Zuschauer werden Teil der Inszenierung, und die Verfolgten können sich der Situation nicht entziehen."
Beim Betrachten wiederholen wir den Täterblick, denn die meisten Deportationsfotos sind Täterfotos. Beim Erschließen der Bilder recherchiert man, wer abgebildet ist, wo das Foto aufgenommen wurde und wie die Überlieferung des Bildes ist – also wer es aufgenommen, aufbewahrt oder auch versteckt hat.
Beraubt, betrogen und ermordet
Bevor die Jugendlichen der Projektgruppe "Jüdisches Leben in Fulda" über ihre Arbeit berichteten, ordnete Anja Listmann die Deportationen ein. Sie zitierte aus den Akten: "Neben dem leichten Handgepäck dürfen die zu evakuierenden Juden pro Person bis zu 50 kg Gepäck bei dem Transport mitführen". 50 kg – ist das viel, kann man das überhaupt tragen? Wir alle kennen von Flugreisen die Beschränkungen beim Gewicht eines Koffers – aber was packt man ein, wenn man die Heimat für immer verlässt? "Die perfide Idee hinter dieser Anordnung war: Wenn die Juden das alles selbst zusammenpacken, müssen wir es nicht tun", so Anja Listmann.
In der Fuldaer Gestapo-Außenstelle in der Heinrichstraße 8 mussten die Juden vor der Deportation ihre Wohnungsschlüssel abgeben. Sie wurden bewusst im Glauben gelassen, irgendwo anders wieder neu anfangen zu können, so war es offiziell angeordnet: "Ich weise daher besonders darauf hin, dass den Juden auf keinen Fall die Beschlagnahme und Einziehung ihres Vermögens schon vor ihrem Abtransport bekannt werden darf", ist in einer Akte zu lesen.
Die Menschen, die zur Deportation vorgesehen waren, kamen zunächst in die zentrale Sammelstelle, ein Gebäude in der Rabanusstraße visavis des alten Jüdischen Friedhofs. "Ihr Ticket in die Vernichtungslager mussten die Juden selbst lösen, auch die Frachtkosten für den Transport ihres Gepäcks zahlten sie selbst", so Anja Listmann sichtlich bewegt. Aus alten Fahrplänen der Bahn ist ersichtlich, dass der Deportationszug am 8. Dezember um 11:23 Uhr am Fuldaer Bahnhof abfuhr. "137 wurden ermordet. 12 überlebten, verloren aber alles und waren für ihr Leben traumatisiert. Aber kein Täter, kein Zuschauer wurde je zur Rechenschaft gezogen", so Listmann.
Mit Emotionen gegen das Vergessen
Florentine aus der Projektgruppe "Jüdisches Leben in Fulda" stellte vor, wie die Gruppe an die Erforschung der Deportationsfotos herangegangen war. Man habe zunächst eruiert, wo am Fuldaer Bahnhof die Bilder gemacht worden seien. Das geschah nicht auf irgendwelchen Abstellgleisen, sondern vor aller Augen. Denn auf den Fotos ist keine Lok zu sehen. Die Waggons mit den Juden wurden einfach an einen Regelzug angehängt.
Mara widmete sich der Frage nach dem Fotografen der Bilder. In diesem Fall – darauf jedenfalls weisen Indizien hin – war es kein Täter, sondern der Fuldaer Fabrikant Arthur Weissbach, der ein kriegswichtiges Unternehmen (Maschinenbau) führte und so vermutlich die Chance hatte, solche Fotos zu machen, ohne dafür belangt zu werden. Aus vielen Dokumenten geht hervor, dass er jüdischen Familien nach Kräften half und sie unterstützte.
Laura und Mara gingen der Frage nach, wer die abgebildeten Personen waren. Jede Deportation musste von einem Sanitäter begleitet werden. Auf einem der Fotos sieht man eine Person mit entsprechender Armbinde – das ist Gisela Binheim geb. Strauss. Sie wohnte zunächst in der Nikolausstraße 14a, zog dann in die Adalbertstraße 1 und dann in die Petersberger Str. 20 um, später zog sie nach Kassel. Auf ihrer Meldekarte ist als Beruf Verkäuferin angegeben, auf der Deportationsliste wird sie als Krankenpflegerin geführt. Vermutlich hat sie in Kassel eine entsprechende Ausbildung gemacht. Ihre Schwester Franziska wählte den Suizid, um der Deportation zu entgehen. Gisela wurde nach Riga deportiert und überlebte drei Jahre im Lager. Als der Krieg schon verloren war, wurden die Gefangenen aus den Lagern im Osten Richtung Westen getrieben. Gisela kam nach Stutthof bei Danzig. Am 09. August 1944 wurde sie dort ermordet. Sie hat keine Nachfahren – "deshalb erzählen wir ihre Geschichte und erinnern uns an sie, damit sie nicht vergessen wird."
Wir sagen ihre Namen
Johannes übernahm das Schlusswort: "Fotos haben mehr Überzeugungskraft als Texte, denn sie appellieren an unsere Gefühle. Umso wichtiger ist es, uns in die Situation hineinzuversetzen. Wir müssen uns klarmachen: Diese Fotos sind kein Zufall. Sie zeigen Menschen, die ihrem Schicksal ausgeliefert sind, der Gewaltkontext ist jederzeit sichtbar. Erst die Entmenschung der Juden hat den Holocaust möglich gemacht. Deshalb setzen wir uns mit Emotionen gegen das Vergessen ein." Johannes verarbeitete seine Erfahrungen mit zwei Bildern zu den Deportationsfotos – seine Art, den Opfern mit Respekt zu begegnen.
Zum Schluss versammelte Anja Listmann ihre Projektgruppe um sich und erklärte den Zuhörern: "Im christlichen wie im jüdischen Glauben sagt man, niemand sei vergessen, dessen Name genannt werde. Deshalb nennen wir nun stellvertretend für die aus Fulda deportierten Juden die Namen der 33 Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen zehn Wochen und 17 Jahren.
Ermordet in Riga: Ernst Adler. Aron Goldschmidt. Horst Jüngster. Herman Mayer. Günter Rapp. Marga Rapp. Justin Weinberg. Erika Weinberger. Kurt Weinberger. Ermordet in Auschwitz: Karola Tockus. Sally Tockus. Adolf Lehmann. Clara Lehmann. Kurt Löwenberg. Fritz Löwenberg. Ruth Weinberg. Bela Weinberg. Martin Katz. Ermordet in Bergen Belsen: Martin Goldschmidt. Max Erwin Goldschmidt. Ermordet in Stutthof: Ilse Anneliese Goldschmidt. Beate Heinemann. Hann Hess. Eva Lehmann. Mally Stern. Nach der Befreiung verstorben: Gustel Kasten-Birnbaum. Unbekannter Todesort: Josef Hess. Friederike Hess. Salomon Kasten-Birnbaum. Herta Mayer. Judis Mayer. Blanka Strauss. Dieter Reinhold Katz.
Es war ein beklemmender Moment der Stille, des Erinnerns und Trauerns. (Jutta Hamberger)+++