Gedenkfeier in Museumshof

Novemberpogrome 1938 - "Wir wollen, dass ihr hier glücklich leben könnt"

Gut 200 Menschen waren zur Gedenkfeier anlässlich der Novemberpogrome in den Museumshof gekommen
Alle Fotos: Martin Engel

11.11.2024 / FULDA - Weder der Ort noch der Termin der diesjährigen Gedenkfeier anlässlich der Novemberpogrome 1938 war vertraut. Wegen der archäologischen Ausgrabungen am Synagogenplatz und dem Schabbat, auf den der 9. November in diesem Jahr fiel, war die Feier in den Museumshof und auf den heutigen Sonntag verlegt worden.


Gut 200 Fuldaerinnen und Fuldaer hatten sich versammelt. In ihrer Begrüßung ging Jutta Hamberger als Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit GCJZ auf das neue Konzept der Gedenkfeier ein: "Unser Ziel war: weg vom Mahnen, und hin zum Berühren. Weg von eingefahrenen Gedenkroutinen, und hin zu Mitgefühl und Nachdenklichkeit. Deshalb stehen heute die Menschen im Mittelpunkt, die man in Fulda nicht haben wollte – weil sie Juden waren." Das Konzept entwickelt hatten Kulturamtsleiter Dr. Thomas Heiler, Anja Listmann (Beauftragte für Jüdisches Leben in Fulda), Bella Gusman und Roman Melamed für die Jüdische Gemeinde und der Vorstand der GCJZ. Es sei eine gute und fruchtbare Zusammenarbeit gewesen, so Jutta Hamberger.

"Es gab Menschen, die uns nicht so wollten, wie wir waren"

Dieses Zitat des Shoah-Überlebenden Martin Löwenberg, der die Pogromnacht in Fulda erlebt hatte, nutzte Jutta Hamberger, um darauf hinzuweisen, dass Pogrome leider nicht der Vergangenheit angehörten, sondern für viele jüdische Menschen bittere Realität seien. Die Bilder aus Amsterdam in dieser Woche hätten das einmal mehr nachdrücklich klargemacht. "Wir haben viele Gründe, jüdischen Menschen jeden Tag aufs Neue zu vermitteln: Wir wollen euch so, wie ihr seid. Wir wollen, dass ihr hier glücklich leben könnt. Wir stehen an eurer Seite."

Vom Versagen der städtischen Verantwortlichen 1938

In seiner kurzen und bewegenden Rede ging Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld auf die Geschehnisse jener Novembernacht vor 86 Jahren ein. Losgegangen sei es mit eingeworfenen Scheiben im Kaufhaus Wertheim, in Wohnhäusern am Stockhaus und an der Jüdischen Volksschule. Der Oberbürgermeister zitierte aus den Polizeiprotokollen des 9./10. November 1938, vom ersten Feuer, das der SS-Standortkommandant Otto Grüner gelegt hatte, vom zweiten Feuer, das Stadtbaurat Emil Kunkel und Bürgermeister Karl Eser legten und das die Synagoge letztlich zerstörte. Er berichtete, dass die Feuerwehr nur die umliegenden Gebäude geschützt habe und dass viele Wertsachen aus der Synagoge geraubt worden seien. "Der damalige Oberbürgermeister Danzebrink tat nichts, um die Schuldigen ausfindig zu machen und reagierte nur mit einem ‚Das hätte leicht schief gehen können‘ auf den Brand", so der Oberbürgermeister. Damit habe er aber nicht die Synagoge gemeint, sondern die umliegenden Gebäude. Der Oberbürgermeister weiter: "Die Reichspogromnacht fand nicht abstrakt irgendwo statt, sondern hier in Fulda. Sie zeigt, wie die Stadt versagt hat, jüdisches Leben zu schützen." Deshalb sei es so wichtig, mehr über Jüdisches Leben in Fulda in Erfahrung zu bringen und die alten Orte jüdischen Lebens neu und würdig zu gestalten. Dieser Aufgabe stelle die Stadt sich heute.

"A single hair"

Jugendliche aus dem von Anja Listmann betreuten Projekt "Jüdisches Leben in Fulda" thematisierten dann die Geschehnisse der Pogromnacht. Sie zitierten Augenzeugen und den Polizeibericht. Jedes dieser Zitate war wie ein Peitschenhieb – hier die verängstigten Opfer, dort die feixenden Täter. Dazu wurden Bilder der ehemaligen Fuldaer Synagoge gezeigt. Ein Höhepunkt war das von einer Jugendlichen vorgetragene Gedicht "A single hair" von Herrmann Taube. Die Jugendlichen hatten es während eines Besuchs des Konzentrationslagers Auschwitz zum ersten Mal gehört – in dem Raum, in dem in Vitrinen die abgeschnittenen Haare der Ermordeten an das Grauen des Vernichtungslagers erinnern. Es ist ein Text, der einen zwischen Erschütterung und Beklemmung hin- und her schüttelt.

"Nimm uns die Angst, die uns lähmt"

Anders als bisher gab es keine weiteren Reden. Die drei Religionsvertreter – Bischof Dr. Michael Gerber, der evangelische Dekan Dr. Thorsten Waap und Roman Melamed für die Jüdische Gemeinde – beteten mit und für uns und für die Opfer der Shoah. Bischof Gerbers Ausgangspunkt war der Pogrombericht im Buch Esther, auf den die Nationalsozialisten sich oft bezogen haben. "Verwandle unsere Trauerklage in Festfreude, damit wir am Leben bleiben und deinen Namen preisen, Herr", zitierte er. Das Buch Esther steht im Zentrum des Jüdischen Purim-Festes – es ist deshalb so wichtig, weil hier erstmals die Geschichte der Errettung des jüdischen Volkes erzählt wird.

Dekan Dr. Thorsten Waap sprach über die Last und Schuld unseres Volkes, auch in der Gegenwart und betete: "Nimm uns nicht das Erschrecken, aber die Angst, die uns lähmt". Roman Melamed betete Psalm 121 "Ich hebe meine Augen auf zu Dir" und dann auf hebräisch und deutsch das "El Male Rachamim" (= Gott voller Erbarmen), ein Gebet, das bei Bestattungen, an Jahrtagen und zum Gedenken an Gefallene gebetet wird – und für die Opfer der Shoah.

Zwölf Jewish Songs

Auch musikalisch ging diese Gedenkfeier andere Wege. Natalya Oldenburg und Karolina Birkstedt von der Fuldaer Musikschule hatten die musikalische Gestaltung der Feier übernommen. Sie hatten sich für die "12 Jewish Songs" des italienischen Schauspielers, Dirigenten und Komponisten Riccardo Joshua Moretti entschieden und spielten daraus zwei Stücke – "Kaddish" und "Ir Shalom".

Unter den an diesem Abend Anwesenden waren viele Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung, Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche, Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und – eigens für die Feier auch in diesem Jahr aus Chicago angereist – Ethan Bensinger, ein Nachfahre der jüdischen Familien Trepp, Kamm und Sichel. Ihm gebührt das Schlusswort: "Was für ein bewegender Abend! Ich bin sehr froh, dass ich gekommen bin." (jh)+++

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