ON-Serie: Nachgedacht (54)
Schreien Sie gerne grundlos? Gedanken von Christina LEINWEBER
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12.01.2014 / NACHGEDACHT (54) -
Herr B. sitzt an seinem Schreibtisch im Büro. Er hat sich viel Mühe für sein erstes Projekt gegeben, unzählige Stunden Arbeitszeit und Kraft hineingesteckt. Sein Chef kommt zu ihm und pflaumt ihn laut an: „Sie haben viele Feinheiten im Projekt nicht sorgfältig genug erarbeitet. Das nächste Mal müssen sie mehr ins Detail gehen, sonst sehe ich keine Zukunft für sie in diesem Unternehmen." Herr B. wird stocksauer, geht erst einmal ins Geschäft gegenüber und kauft sich Zigaretten. Die Verkäuferin Frau P. braucht lange, um bei ihm zu sein. Er schreit sie an: „Was ist das denn für ein Service hier. Hier kauf ich nie wieder." Sie bedient ihn noch schnell und ärgert sich insgeheim, da sie den Kunden nicht noch mehr aufhetzen will. Am Abend kommt sie frustriert nach Hause. Ihr Kind hat das komplette Wohnzimmer mit Spielsachen übersät. Sie stößt sich den Zeh an einem Turm und brüllt ihren kleinen Sohn an: „Jetzt räum endlich dein Zeug hier weg. Hier kann man nicht mal durchlaufen!" Dass sich der kleine Junge so sehr darüber gefreut hat, seine Mama zu sehen, geht unter. Das Kind geht traurig ins Bett.
Dies war eine kleine Geschichte, die sich wahrscheinlich sehr oft – viel zu oft – ungefähr so abspielt. Was fällt auf? Es spielt sich eine Reihe von Ereignissen ab, die grundsätzlich von einem Gefühl angetrieben wird: von Verärgerung. Ich nenne es „Die Lawine des Anschreiens". Das Problematische daran ist: Nie wird der Urheber des Zorns zurück angeschrien, sondern der Zorn geht über auf andere Personen, die ursprünglich gar nicht zornig waren und unbeteiligt an der Ursache sind. So wird die Verärgerung weitergegeben – vom Urheber bis zu einer letzten Person. Und dort sitzt zumeist jemand, der es gar nicht verdient hat, angeschrien zu werden.
Letzte Woche wurde ich zweimal zu einer Person in dieser Lawine. Beim ersten Anruf war die Person so sauer, dass sie mir das genauso weitergegeben hat, obwohl ich „nullkommanix" mit dem Grund der Verärgerung zu tun hatte. Natürlich war meine Laune dann auch im Keller. Beim zweiten Anruf hat mir die Person am anderen Ende des Apparates zuerst zu mir gesagt: „Ich bin gerade voller Wut und muss das jemandem erzählen. Ich muss jetzt bei dir Dampf ablassen! Vielleicht kannst du mir helfen." Welche Variante von beiden hat mir wohl besser gefallen? Na klar, diese, in der ich quasi außen vor war, die Wut nicht auf mich übergehen sollte, sondern in der ich Distanz zu dieser Wut hatte und sogar noch beratende Funktion einnehmen durfte.
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ZUR PERSON: Christina Leinweber, 1988 geboren in der osthessischen Bischofsstadt Fulda, neun Jahre katholisch-private Schulausbildung – so war der Weg zum Theologiestudium für sie vorbestimmt und beschlossen. Es ging dann für vier Jahre Studium in die nächste Bischofsstadt Paderborn - hat inzwischen ihr 1. Staatsexamen in der Tasche und ist seit Anfang November im Schuldienst des Landes Hessen. Ihre Tätigkeit als Kolumnistin bei osthessen-news.de möchte sie auch in Zukunft fortsetzen. Sie selbst bezeichnet sich als liberal-theologisch und kommentiert (seit 54 Wochen) in der Serie "NACHGEDACHT" Dinge des Alltags aus ihrer persönlichen Sicht. +++