WIELOCHS WIRRE WELT (2): Baugewerbe jammert – „Wir fliehßen allem“

Jochen Wieloch blickt durch
Grafik & Fotos: Nicole Wagner

22.11.2013 / REGION - Diese Meldung bei osthessen-news vom Mittwoch hat einen ganzen Landkreis erschüttert: „Fliesenleger wollen wieder Meisterpflicht: ,Abschaffung war Fehlentscheidung’". Die Qualität in dem einstigen Vorzeige-Handwerk sei drastisch gesunken, die Ausbildungsleistung eingebrochen, hieß es in einer Pressemitteilung des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes (ZDB) und der Industriegewerkschaft IG BAU. Ist es wirklich so schlimm um den Berufsstand der Fliesenleger bestellt? Hat das Handwerk auch in der Region Fulda keinen goldenen Boden mehr? Wir haben die Probe gemacht und einen Fliesenleger geordert.


Mit Kaugummi und Zigarette im Mund fällt es dem 18-Jährigen mit zehn Jahren Berufserfahrung schwer, sich angemessen an der Haustür vorzustellen. Der Aufdruck am Arbeitsoverall „Wir fliehßen allem" irritiert ein wenig, aber andererseits: Der Kerl soll neuen Boden verlegen und nicht Theodor Storms Schimmelreiter rezitieren. Mit „Wo willst du?" fällt die gedankliche Auseinandersetzung mit der fliesentechnischen Aufgabe und dem unbekannten Terrain der neuen Auftraggeber eher knapp aus. Ähnlich zügig schildert uns der selbsternannte Fliseuse seine Geschäftsphilosophie: „Nix Rechnung mit Mehrwegsteuer!" Wir führen den Fachmann ins Wohnzimmer. Hier erstrahlt zumindest vor unserem geistigen Auge bereits die frische italienische Fliesenkunst, blütenweißer Carrara-Marmor reich verziert mit Mosaiken und Intarsien. „Das sind acht mal fünf Meter", liefern wir die entscheidenden Fakten zur Ermittlung der erforderlichen Materialmenge.

Der Profi sammelt erste Kompetenz- und Sympathiepunkte. Er vertraut nicht blind unseren Angaben, sondern will die Wohnfläche selbst vermessen. Das ist extrem seriös: Da möchte jemand nicht mehr Fliesen loswerden als unbedingt notwendig, um unser Budget zu schonen. „Zollstock?", fragen wir höflich nach. „Mach ich App", untermauert der Fliesen-Meister sein schier unendliches Know-how und seine Affinität zu modernem Hightech. Einmal kurz das iPhone in die Luft gehalten, hat der „Wir fliehßen allem"-Mann schon das Ergebnis. „256 m und ne hohe zwei", verkündet er stolz das Resultat seiner Präzisionsmessung. „Ist vielleicht ein klein wenig zu viel", geben wir dem Boden-Guru einen dezenten Ratschlag. „Der Raum hat acht mal fünf Meter..."

Sein Einwand „Willst du Streit oder was? Ich flies dich!" erstickt jegliche pingelige Diskussion unsererseits um den möglicherweise ein oder anderen überflüssigen Quadratmeter im Keim. Aber es besteht ohnehin keine Redebereitschaft. Der 18-Jährige hat damit begonnen, ohne Absprache und lautstark per Handy Material zu ordern. Seinen Haus- und Hoflieferanten kenne er schon Jahre, der sei extrem zuverlässig und seriös. Das belegen eindrucksvoll nicht zu überhörende Gesprächsfetzen des Kompagnons wie „Heut Nacht um drei im Michelsrombacher Wald", „Da schlafen die Bullen", „Die Risse sind überstrichen", „Das ist das letzte Mal" und „Unser Flug nach Rio geht am Montag".

Als wir keine Vorkasse in Höhe von 3000 Euro leisten wollen, hat es der Jüngling plötzlich eilig. Andere Kunden würden warten. Danach hören wir vom Bodenprofi nie mehr etwas. Ein Sprecher des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes erklärt auf Nachfrage, dieses Verhaltensmuster der Arbeitsverweigerung sei speziell bei vielen jüngeren Fliesenlegern ohne professionelle Ausbildung weit verbreitet. „Sie wirken häufig zwar recht ungehobelt, sind aber völlig harmlos. Die tun keiner Fliese was  zuleide!" (JOCHEN WIELOCH)


HINTERGRUND: „Wielochs wirre Welt" erscheint seit vergangener Woche jeden Freitag bei osthessen-news.de. Jochen Wieloch (37) blickt dabei pointiert, humorvoll und teilweise mit einer gehörigen Portion Ironie auf die Ereignisse, die die Menschen in der Region und im Land bewegen. Der Petersberger kennt sich als selbstständiger Redakteur in den Medien Print, TV und Internet bestens aus, ist Buchautor und als Spezialist für Unterhaltungselektronik gefragter Autor für zahlreiche Verlage, Magazine und Fachzeitschriften. Außerdem berät und betreut der 37-Jährige Unternehmen in allen Fragen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Neben dem ZDF, 3sat und dem Bayerischen Rundfunk arbeitete Jochen Wieloch unter anderem auch für die Motor Presse in Stuttgart und auto-tv in München. Für osthessen-tv.de stellt der Germanist neuerdings regelmäßig automobile Neuheiten in Filmbeiträgen vor.  +++

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