Neue Kammermusik Vonderau Museum-Kapelle

Vom elf-dimensionalen Universum zurück auf den Heimatboden

Michael Quell bringt immer wieder großartige Komponisten und Ensembles Neuer Musik nach Fulda
Alle Fotos: Martin Engel

30.10.2025 / FULDA - Es ist etwas Besonderes, wenn in einem Kammerkonzert vier der fünf gespielten Komponisten anwesend sind. Genauso besonders, wie es die gesamte Reihe Moderne Kammermusik ist, die Michael Quell verantwortet. Er holt Ensembles, Werke und Komponisten nach Fulda, die man sonst nur in den Großstädten und Musikmetropolen dieser Welt erleben kann. Mit anderen Worten: Man sollte hingehen, denn die Konzerte sind immer ein Ereignis.


Ein bestimmender Akteur zeitgenössischer Musik

Das 1994 gegründete "modern art ensemble" ist einer der wichtigsten Akteure der zeitgenössischen Musik. Es gibt Konzerte in ganz Europa und Asien und hat bereits mehr als 300 Uraufführungen begleitet. Klaus Schöpp (Flöte), Matthias Badczong (Klarinette), Theodor Flindell (Violine), Uschik Choi (Cello), Christine Paté (Akkordeon) und Yoriko Ikeya (Klavier) sind eine Klasse für sich. Denn die Werke dieses Abends erforderten Musikalität, Virtuosität und ein tiefes Verständnis für das, was die Komponisten auszudrücken versuchten. Das Programm war unter den Oberbegriff "Farben" gestellt worden – was man sowohl mit Vielschichtigkeit und Klangfarben der Werke als auch mit unterschiedlichen Herangehensweisen der Komponisten übersetzen konnte.

Im Schneeland

Klaus Schöpp war gleich in dreifacher Funktion in Fulda, als Manager und Flötist des "modern art ensembles" und als Komponist des Stücks "Schneeland". Dieses ist vom gleichnamigen Roman des Literaturnobelpreisträgers Yasunari Kawabata beeinflusst. Der Roman erzählt die schwebende, flirrende Geschichte eines Mannes, der sich der Liebe und der Wirklichkeit entzieht – angesiedelt ist sie in einem japanischen Kurort in den Bergen. Beim Hören war ich allerdings nicht in Japan, sondern fühlte mich eher in den Norden Norwegens entführt. Die Musik klirrte, flirrte, knarzte, man hörte die Kälte, spürte die Dunkelheit des Tags und die gleißende Helligkeit des Schnees, erlebte die Einsamkeit, vielleicht sogar einen Schneesturm, und spürte eine latente Traurigkeit. Ein faszinierendes Stück!

Im Flow

Die einzige Komponistin des Abends war Charlotte Seither, die schon viele internationale Auszeichnungen erhalten hat. Der Ausgangspunkt ihres Stückes "Flow" war der Wunsch von Flötist Klaus Schöpp, eine ihm ganz besonders am Herzen liegende Flötentechnik zu integrieren, bei der man relativ hart anblasen muss und damit sogenannte Spaltklänge erzeugt. Zu hören ist dann nicht ein einziger, reiner Ton, sondern ein gebrochener Mehrklang, Töne, die auch leiser und dünner sind als der normal geblasene Vollton. Der Flöte gesellt Seither zwei Streichinstrumente hinzu und erklärte in ihrer Einführung, Geige und Cello seien wie die begleitenden Engelsflügel der Flöte. Beide Streichinstrumente greifen Töne der Flöte auf, nehmen sie mit, verwandeln sie und sorgen so für beständige Bewegung. Ein ausgesprochen spannungsreiches Stück.

Im geheimnisvollen Boot

Der Franzose Tristan Murail war als einziger Komponist nicht in Fulda anwesend. Bei seinem Stück "La barque mystique" ließ er sich von einem Gemälde Odilon Redons inspirieren, das von den leuchtenden Flächen der Segel dominiert ist, die vor dem diffusen Hintergrund gleichsam hervorstechen. Genau solche Klangflächen kann man auch in Murails Stück hören: mal überlappend, mal streng voneinander getrennt, mal dreidimensional zugespitzt. Das Wasser, in dem das Boot sich bewegt, wird in musikalische Bewegung übersetzt – in Wellen, Zacken und Kanten. Sogar die Materialität der Segel vermeint man zu hören – weich und hart, sanft und kratzig, aufgeblasen oder schlaff am Mast hängend.

Im 11-dimensionalen Universum

Michael Quells Stück "String III – Branes" schließlich entführte uns in die Welt der Teilchenphysik und ist von der Stringtheorie beeinflusst. Die ist zwar ‚nur‘ ein Theorem, weil bisher der Beweis fehlt, aber nur sie bringt alle vier Elementarkräfte auf einen Nenner (Elektromagnetismus, Gravitation, starke und schwache Kernkraft). Sie besagt, dass alle Materie und alle Wechselwirkungen auf kleinste Grundbausteine zurückgehen. Quells Faszination gehört dem winzigsten Urelement, aus dem heraus ein hochkomplexer Kosmos entsteht. Diesen Prozess, in dem sich ein Urelement immer weiterentwickelt und verdichtet, bis es schließlich in sich zusammenfällt und ein neuer Werdens-Zyklus entsteht, bildet er in seiner Komposition ab. Man könnte noch weitergehen und sagen, dass auch die drei Instrumente (Klavier, Akkordeon und Violine) jedes für sich eine Dimension darstellen. Unglaublich faszinierend!

In der Heimat

Heimat sei da, wo die Rechnungen ankämen, hat Heiner Müller einmal gesagt. Der Thüringer Komponist Helmut Zapf zitierte ihn, denn auch sein Stück "Heimat" setzt sich mit der eigenen Verortung auseinander. Dazu habe ihn auch seine zweite Ehefrau angeregt, die von der russischen Halbinsel Kamtschatka stamme und in Russland mehrfach neue Heimaten gefunden habe, bevor sie mit ihm nach Deutschland gegangen sei. Das Stück beeindruckt mit einer komplexen und oft geradezu melodiösen Klangsprache, es war originell, im Vergleich zu den anderen Kompositionen des Abends aber doch deutlich konventioneller.

Nach gut anderthalb Stunden ging ein faszinierender Konzertabend zu Ende, der die Chance bot, eigene Hör- und Klanggewohnheiten zu überprüfen. Man konnte sich mit Musik auseinanderzusetzen, die zunächst vielleicht fremd scheint, dem eigenen Ohr aber mit zunehmendem Hören vertrauter wird. Und je vertrauter man mit der Musik wird, desto besser ‚hört‘ und versteht man auch. Das Publikum in der Kapelle des Vonderau Museums – allesamt Kenner der neuen Musik und regelmäßige Besucher der Reihe – war begeistert und spendete reichlich Beifall. (Jutta Hamberger) +++

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