"Überlegt doch, wie es euch geht!"
Predigt von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann
Im Gedächtnisgottesdienst für die verstorbenen Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz am 25. September 2025 in Fulda predigte Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann an über den Propheten Haggai
Fotos: Marvin Myketin
25.09.2025 / FULDA -
Im Gedächtnisgottesdienst für die verstorbenen Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz am 25. September 2025 in Fulda predigte Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann an über den Propheten Haggai: "Überlegt doch, wie es euch geht!" (Haggai 1,5)"
Liebe Schwestern und Brüder!
Der Abschnitt aus dem Propheten Haggai, den wir eben in der Lesung gehört haben, hat mich tief angesprochen, weil er mich an ein Geschehen aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in meiner Diözese Speyer erinnert, dessen 75. Jahrestag wir im letzten Jahr begangen haben.
Zunächst einmal aber zum Hintergrund des Prophetenwortes: Dank einer veränderten politischen Großwetterlage konnte das Volk Israel aus der babylonischen Gefangenschaft, d. h. aus den Jahren des Exils, wieder in die Heimat zurückkehren. Aber diese Befreiung und Heimkehr gestaltete sich schwierig. Vor allem fehlten die Mittel für den Wiederaufbau. Was zur Verfügung stand, ging alles in den eigenen Aufbau. So vergehen die Jahre, ohne dass der Tempel in Jerusalem wieder hergerichtet wurde. Daher beklagt sich der Prophet Haggai darüber, dass das Volk über allem Einsatz für das eigene Heim und Leben den Wiederaufbau des Tempels vernachlässigt. Dabei geht es dem Propheten nicht so sehr um den Tempel als Kultstätte – die war vorhanden –, sondern als Ort der Gegenwart Gottes mitten in seinem Volk, als Ort der Bewusstwerdung, wem man die eigene Freiheit und das Leben zu verdanken hat, als Ort des Bundes Gottes mit seinem Volk.
Und so fordert der Prophet das ihren Gott vergessende Volk zum Innehalten und Nachdenken auf: "Ist etwa die Zeit gekommen, dass ihr in euren getäfelten Häusern sitzt, während dieses Haus in Trümmern liegt? Nun aber spricht der Herr der Heere: Überlegt doch, wie es euch geht!" Und nun führt er dem Volk zu Bewusstsein, dass bei aller Anstrengung und Betriebsamkeit des Aufbaus die wesentliche Lebensgrundlage aus dem Blick geraten ist. Aller Aktivismus, so der Prophet, gleicht daher letztlich einem löchrigen Beutel. Und selbst das, was man geschafft zu haben scheint, wird irgendwie hohl, weil es nur ein irdisches Abmühen darstellt ohne gelebten Bezug zu dem, von dem alles kommt und in dem alles Bestand hat. "Überlegt, wie es euch geht!" Trotz allem, was ihr habt, verrinnt euch euer Leben wie in einer Sanduhr unter euren Händen. Ihr meint, euch fehlt nichts – und doch verliert alles ohne Gott seine Qualität, seine sättigende Kraft, seine Farbe und Lebensfreude, seine Wärme, Fruchtbarkeit und Nachhaltigkeit. Es wird im wahrsten Sinn wert-los, "verdient für einen löchrigen Beutel". Wenn ihr Gott wieder in eure Mitte holt, so der Prophet, dann ordnet sich alles wieder zur Wertigkeit des Lebens, zur Sättigung der Seele, zum wärmenden Kleid des Miteinanders, zur Trunkenheit echter Lebensfreude. Mit Gott in eurer Mitte könnt ihr gemeinsam die Krise überwinden, das Land aufbauen und es in eine nachhaltige Zukunft führen.
Auf diesem Hintergrund hat mich die Geschichte des Siedlungswerkes der Diözese Speyer, die vor über 75 Jahren begonnen hat, nochmals tiefer berührt. Sie mutet wie eine wunderbare Gegenerzählung und tiefsinnige Ergänzung zur Klage des Propheten Haggai an. Die Geschichte des Siedlungswerkes der Diözese Speyer setzt wie in vielen anderen Diözesen in einer Zeit großer Armut und Wohnungsnot unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg an. Nicht nur, dass viele Häuser in der Pfalz, etwa in Ludwigshafen oder Kaiserslautern, durch Bomben und Kriegshandlungen weitgehend zerstört waren. Dazu kamen die vielen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, die alles verloren hatten und nun dringend ein Dach über dem Kopf benötigten. Dabei wurden vielerorts der Wiederaufbau und das Wiederherrichten der Kirchen unmittelbar, noch vor dem Wiederaufbau der Häuser, in Angriff genommen.
Es gab damals eine enorme Spendenbereitschaft aus der ganzen Bevölkerung für die Wiederherstellung der Gotteshäuser. Darin spiegelt sich sicherlich auch die ungeheure seelische Not nach dem Wahnsinn und Schrecken des Naziregimes und des verlorenen Krieges wider, die nicht geringer als die körperliche und materielle war. Für die Menschen in den Ruinen, die der Krieg hinterlassen hatte, gerade auch für die aus ihrer Heimat Vertriebenen, war der Kirchbau ein unersetzlich wichtiger Ort, sich ein Rest von Heimat zu bewahren und die seelischen Kräfte für den radikalen Neuanfang zu gewinnen. Ich selbst bin in solch einer Diasporagemeinde groß geworden, die im Wesentlichen aus Schlesiern bestand, die aus der Grafschaft Glatz vertrieben worden waren und mit ihrem Pfarrer in meinem Heimatort in Ostwestfalen gelandet waren. Obwohl meine familiären Wurzeln in Westfalen und im Rheinland sind, bin ich doch stark von der Inbrunst der schlesischen Lieder und Traditionen geprägt worden, die in unserer Kirche gepflegt wurden. Das Wiederherrichten der Kirchen mit allem, was für das kirchliche Leben nötig war, wurde für viele zum Symbol des Neuanfanges mit dem Segen Gottes.
Auf dem Hintergrund dieser großen Spendenbereitschaft für den Kirchbau trotz der enormen Armut in der Nachkriegszeit mutete der damalige Bischof von Speyer und spätere Münchner Kardinal Joseph Wendel den Gläubigen eine Art von Steuer auf den Kauf von Glocken, Orgeln, Heiligenfiguren und anderen wichtigen Gegenständen zur Kircheneinrichtung zu, um mit diesen Einnahmen denen zu helfen, die überhaupt kein Dach über ihrem Kopf hatten und die durch den Krieg ihr Zuhause oder ihre Lebensgrundlage verloren hatten. Das war die Geburtsstunde des Speyrer Siedlungswerkes. "Man kann das Haus Gottes nicht schön errichten, wenn man an der Not der Menschen achtlos vorbeigeht", schrieb der Bischof an seine Diözesanen. Und die soziale Abgabe hatte Erfolg. Schon 1949 konnte Bischof Wendel die ersten Häuser in Ludwigshafen einweihen. Bischof Wendel war nicht der Einzige, der so handelte. Das damalige Motto "Dombau ist Wohnungsbau" war auch in anderen Diözesen leitend – und gewinnt angesichts der heutigen Wohnungsmisere eine neue Aktualität. Berührend ist die Vision von Kirche, die hier zur gelebten Solidarität mit der Not der Menschen wurde.
"Dombau ist Wohnungsbau" – unter diesem Leitmotiv verbinden sich beide Erzählungen: Die vom Propheten Haggai, der die gottvergessenen Menschen zum Nachdenken bringen wollte. Auch wenn nichts zu fehlen scheint, wird das Leben ohne Gott wie ein löchriger Beutel und das menschliche Leben verliert seine Wertigkeit, seinen Halt, seine innere Heimat, ohne die wir in unseren Häusern nur hausen, nicht wohnen. Gott in die eigene Mitte zu holen bedeutet, das Herz zu weiten, sodass Wohnraum für alle entsteht. "Dombau ist Wohnungsbau". Aber auch die beispielhafte und, wie ich finde, berührende Erzählung aus meinem Bistum vom weitsichtigen Bischof und seinen Mitstreitern. Von der Vision einer Kirche, die nicht bei sich selbst verbleibt, sondern die Nöte der Menschen im Blick behält, vor allem die, in denen Christus sich besonders zu erkennen gibt: "Ich war nackt und ihr habt mich bekleidet. Ich war obdachlos und ihr habt mir ein Dach gegeben." (Vgl. Mt 25)
Was eindringlich gerade auch für unsere Zeit bleibt, ist die Anfrage Gottes durch den Propheten Haggai: "Überlegt doch, wie es euch geht!" Da ist doch nicht nur die materielle Infrastruktur, die milliardenschweren Investitionsbedarf hat. Da ist das Grundgefühl des Lebens als löchriger Beutel, das momentan vor allem die, die aus der Angst und Verunsicherung der Menschen ihr Kapital schlagen, auszunutzen wissen. Geschickt ernähren sie sich von der Unzufriedenheit und Unruhe der Menschen, haben aber selber nichts anzubieten, was satt macht – und warm – und Lebensfreude schenkt – und Wert und Würde dem gebeutelten Menschen verleiht. In der Hässlichkeit ihrer ausgrenzenden Unmoral finden sie sich gegenseitig, schüren sie die Ressentiments und bedienen sie die am Ende selbstzerstörerische Bereitschaft im Menschen zur Verächtlichmachung missliebiger Menschen und Strukturen.
"Überlegt doch, wie es euch ergeht!" Überlegt doch, wo und wie das Leben Vielfalt und Farbe, soziale Wärme, Sinn und Würde für alle, echte miteinander geteilte Lebensfreude erlangt, und schon beginnt der Tempelbau Gottes mitten in unserer Welt. "Wisst ihr nicht", ruft uns der Apostel Paulus zu, "dass ihr Gottes Tempel seid?" (1 Kor 3,16) Als Kirche kann uns die leidenschaftliche Vision unserer Vorfahren: "Dombau ist Wohnungsbau" auch heute inspirieren. Denn es ist doch unsere Aufgabe in der Welt, hier schon etwas von dem zum Erstrahlen zu bringen, was uns im himmlischen Jerusalem erwartet: "Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen … Denn was früher war, ist vergangen." (Offb 21,3 f.) (ms/pm) +++