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Von der Flucht zu Goldmedaillen

Weltrekord nach Hirntumor: Semechins bewegende Geschichte

Elena Semechin hat sich den Titel als "Ausnahmeschwimmerin" mehr als verdient. Elena Semechin hat sich den Titel als "Ausnahmeschwimmerin" mehr als verdient.
Fotos: Moritz Rös

18.03.2025 / ROTENBURG/F. - Zweifache Paralympics-Goldmedaillengewinnerin, Weltmeisterin und Weltrekordhalterin: Elena Semechin hat sich den Titel als "Ausnahmeschwimmerin" mehr als verdient. Die 31-Jährige trotzte nicht nur ihrer Sehbehinderung und einem Hirntumor, sondern formte nach diesen harten Schicksalsschlägen eine einzigartige Karriere. Wie gefesselt klebten die Gäste bei der 41. femak Bundesfachtagung in Rotenburg an ihren Lippen.


"Ich konnte die Zuschauer zwar nicht sehen, aber ich habe sie gespürt", schilderte Semechin die Momente vor ihrem Start über 100 Meter Brust bei den Paralympischen Spielen 2024 in Paris. Die letzten Atemzüge auf dem Startblock, voller Fokus auf das Rennen und dann das Startsignal: Momente später glitt Semechin wie ein Fisch durch das Wasser und war voll in ihrem Element. Kaum zu glauben, dass bei der späteren Sportlerin des Jahres nur wenige Monate zuvor ein Hirntumor diagnostiziert wurde.

"Ich habe mich wie ein Alien gefühlt"

Elena Semechin (geborene Krawzow) wuchs in Kasachstan in armen Verhältnissen auf. Mit sieben Jahren wurde bei ihr die Erb-Erkrankung Morbus Stargardt diagnostiziert, die die Sehfähigkeit eines Betroffenen stark einschränkt. Mit elf Jahren flüchtete sie gemeinsam mit ihrer Familie aus wirtschaftlichen Gründen von Kasachstan nach Bamberg. An eine Profikarriere im Becken dachte Semechin zu dieser Zeit noch nicht - ganz im Gegenteil. Bevor die heute 31-Jährige überhaupt schwimmen lernte, war sie mit den Herausforderungen einer Spätaussiedlerin konfrontiert. Außerdem verschlechterte sich ihre Sehkraft nahezu täglich. "Es ging ziemlich rasant abwärts", fasste Semechin ihre erste Zeit in Deutschland zusammen: "Ich habe mich wie ein Alien gefühlt." Mit zwölf Jahren wechselte sie die Schule und ging fortan auf das Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte in Nürnberg. "Dort habe ich einen Erzieher kennengelernt, der mich zum Sport gebracht hat. Er hat mein Talent gesehen - und meinen Kampfgeist." Gemeint ist Michael Heuer, der ihr mit 13 Jahren das Schwimmen beibrachte.

Der unermüdliche Kampf gegen harte Rückschläge

Schnell erkannte Semechin die Chancen und Perspektiven, die nur der Sport bietet. "Das Schwimmen war für mich wie ein Tor in die Welt", so die 31-Jährige. 2015 folgte der Umzug von Nürnberg nach Berlin, wo ihr heutiger Ehemann, Philip Semechin, ihr Talent weiter förderte. Nur ein Jahr später galt sie bei den Paralympischen Spielen 2016 als Favoritin auf ihrer Paradestrecke. "Ich war mir sicher, dass ich die Goldmedaille holen werde", so Semechin. Doch es kam anders als gedacht: "Das Finale habe ich total verissen. Ich war körperlich fit, aber mental noch nicht bereit. Ich habe die größte sportliche Niederlage auf der wohl größten sportlichen Bühne erlebt. Ich konnte den Stress an diesem Tag nicht ausschalten." Ein weiterer harter Rückschlag für die Deutsch-Kasachin. Doch anstatt sich davon aufhalten zu lassen, kämpfte sie weiter und erkannte: "Aus jeder Niederlage kann man lernen. Diese Niederlage hat meine Sportkarriere geprägt."

Nur vier Jahre später stand Semechin wieder im Finale einer Paralympischen Olympiade. 2020 in Tokio lief dann alles anders: "Nach zwölf Jahren Leistungssport habe ich dann endliche meine Goldmedaille erreicht. Das war mein größter Erfolg - mein Ziel - mein größter Wunsch."

Vom Hirntumor zum Weltrekord

Eine Wiederholung des Erfolgs sollte folgen: Ihr größter Kampf auf diesem Weg war jedoch nicht im Wasser, sondern gegen eine lebensbedrohliche Diagnose. 2021 wurde bei ihr ein Hirntumor festgestellt. Eine Nachricht, die viele Menschen aus der Bahn geworfen hätte - nicht aber Semechin. Sie unterzog sich einer schweren Operation, einer 13-monatigen Reha und kämpfte sich mit eisernem Willen zurück ins Training. Ihr Ziel? Die Paralympischen Spiele 2024 in Paris. Positiv verrückt war ihr damals bewusst: "Sobald die OP rum ist, gehe ich wieder trainieren." Nur eine Woche nach der Operation stand Semechin wieder am Beckenrand: "Ich habe gesagt: Let's Go! Wir machen so viel, wie geht."

Der Weg nach Paris war alles andere als leicht. Die intensive Therapie, die Nachwirkungen der Erkrankung und die physische wie psychische Belastung stellten sie immer wieder vor neue Herausforderungen. Trotzdem gab sie nicht auf - und plötzlich hatte sie viel mehr vor Augen als die Goldmedaille. Dann kam der große Moment: die Paralympischen Spiele in Paris. Semechin trat mit einer Mischung aus Anspannung und Entschlossenheit an. In ihrer Paradedisziplin über 100 Meter Brustschwimmen setzte sie sich gegen die harte Konkurrenz durch - und nicht nur das. Sie pulverisierte ihren bisherigen Weltrekord und winkte erneut ganz oben vom Podium.

Kommentar: Elena Semechin hat mit ihrem Weltrekord und ihrem beeindruckenden Lebensweg Geschichte geschrieben. Doch ihre wahre Stärke liegt nicht nur in ihren sportlichen Erfolgen, sondern in der unbändigen Willenskraft. Sie hat bewiesen, dass kein Rückschlag groß genug ist, um wahre Leidenschaft und Entschlossenheit zu bremsen. Ihr Weg von der Sehbehinderung, über die Flucht aus ihrer Heimat und der Tumor-Diagnose, bis hin zum Weltrekord ist eine Inspiration für viele - weit über den Sport hinaus. Oder um es in den Worten der Spitzensportlerin auszudrücken: "Man kann aus jeder Schwäche eine Stärke ziehen." (Constantin Butler) +++