Jeder konnte es wissen, alle konnten es sehen
Zum Berliner Workshop der Projektgruppe "Jüdisches Leben in Fulda"
© Anja Listmann
23.12.2024 / REGION -
Es gibt wohl niemanden in Fulda, der sich so intensiv mit der Geschichte der Fuldaer Juden auseinandergesetzt hat wie Anja Listmann. Und es gibt auch niemanden, der besser als sie die Stelle als "Beauftragte für Jüdisches Leben" ausfüllen könnte – die sie seit 2021 innehat.
Über Auslöser und Anlässe
Sehr schnell wurde Anja Listmann klar, dass man die Themen Drittes Reich, Rassismus, Antisemitismus und Shoah besonders jungen Menschen vermitteln muss. Im nächsten Jahr liegt das Weltkriegsende 80 Jahre zurück, eine halbe Ewigkeit. Zeitzeugen gibt es nur noch sehr wenige. Wie also spricht man über dieses rabenschwarze Kapitel deutscher Geschichte so, dass Jugendliche auch mit dem Herzen verstehen, was damals passierte?
Anja Listmann gründete 2011 die Projektgruppe "Jüdisches Leben in Fulda". Schüler:innen der Mittel- und Oberstufe widmen sich hier höchst unterschiedlichen Projekten zum jüdischen Leben in Fulda. Vielen ist sicher noch in Erinnerung, dass die Jugendlichen im Corona-Jahr 2020 Steine beschrieben und bemalten – ein Stein für jedes deportierte und ermordete jüdische Kind der Fuldaer Gemeinde. Mehrmals in den vergangenen Jahren beschrifteten sie Steine mit den Namen der Menschen, deren Gräber auf dem alten Jüdischen Friedhof geschändet worden waren, und legten sie am Gedenkstein am Jerusalemplatz ab. Immer geht es darum, etwas zu tun – und darüber nachzudenken und zu sprechen. Immer geht es um Empathie. Immer geht es darum, eine persönliche Ebene zu finden.
Sehen lernen
Es gerät leicht aus dem Blick, dass alle bekannten Fotos aus dem NS-Staat Täter-Fotos sind, das heißt, sie sind inszeniert, sie sollen eine bestimmte Botschaft oder Ideologie vermitteln. Kein ‚Modell‘ wird hier freiwillig fotografiert. Viele Bilder wurden heimlich aufgenommen, manche waren auch Auftragsarbeiten. Zu diesen zählt das sogenannte "Auschwitz-Album", das im Mai 1944 in Auschwitz entstand – der Fotograf war Ernst Walter, der im Auftrag von Lagerkommandant Rudolf Höss die Ankunft und Ermordung der ungarischen Juden für seinen Dienstherrn Himmler dokumentierte und dabei auch ein Album für sich selbst anfertigte. Die Fotos der sogenannten "Ungarn-Aktion" waren nicht dafür gedacht, jemals ‚normalen‘ Bürgern gezeigt zu werden. Beim überstürzten Abmarsch aus Auschwitz nahm Walter, der ins Konzentrationslager Mittelbau-Dora versetzt wurde, das Album mit und ließ es dann bei seiner Flucht dort liegen. Lilly Jacob, eine der deportierten ungarischen Jüdinnen, fand es zufällig, und sah darin Fotos ihrer Familie und von Freunden. 1980 übergab sie das Album der Gedenkstätte Yad Vashem.
All diese Fotos muss man deshalb mit wahrhaft detektivischem Blick betrachten. Es geht immer darum, die Wahrheit hinter dem Bild zu verstehen. Im New Yorker YIVO Institute for Jewish Research ( https://www.yivo.org) liegen die Originale der drei einzig bekannten Fotos von Deportationen Fuldaer Juden am 08.12.1941. Die Bilder gibt es auch im Stadtarchiv, dort aber in weitaus schlechterer Qualität.
Die Projektgruppe wird in das Forschungsprojekt eingebunden
Sie stellten Fragen: Wen sieht man da?, Wo ist die Aufnahme entstanden?, Zu welcher Tageszeit?, Wo genau stand der Fotograf? Wie ist die Atmosphäre der Bilder? und so weiter. Die Ergebnisse ihrer Recherche präsentierten die zwölf Jugendlichen während des Workshops. Den Workshop organisierten Lisa Paduch von #LastSeen und Madlen Seidel, Bildungsreferentin im Haus der Wannseekonferenz. Die beiden waren mehr als beeindruckt von dem, was die Jugendlichen erarbeitet hatten.
Am ersten Workshop-Tag ging es um die Frage, wie man historische Fotografien analysiert. In kleinen Gruppen bekamen die Jugendlichen Deportationsfotos von verschiedenen Orten vorgelegt verbunden mit der Aufgabe, diese auf einem Zeitstrahl zu sortieren. Bei der Vorstellung sollten sie vo allem auf das eingehen, was ihnen aufgefallen war.
Und ihnen war viel aufgefallen. Drei der Fotos zeigen viele Deportierte, im Hintergrund steht ein Haus. Auf zwei Fotos sind die Vorhänge zugezogen, auf einem sind sie geöffnet und man sieht eine Person, die offensichtlich die Deportation beobachtet. Die Fotos mit den geschlossenen Vorhängen entstanden vor dem anderen, das konnte man an der Art ablesen, wie die Menschen sich bewegten.
"Menschen sind weder unsichtbar noch unüberhörbar", so Anja Listmann – die dem Entschuldigungs-Mantra "Wir haben doch nichts gewusst" eine scharfe Absage erteilt. "Jeder konnte es wissen, weil jeder es sehen konnte. Vieles geschah am hellichten Tag und vor aller Augen."
Diese Menschen wurden aus Fulda deportiert
Ein Mitglied der Gruppe stellt vor, was sie zu den Fuldaer Fotos herausgefunden hat. Sie zeigt eine Postkarte von 1905. Unten links in der Ecke sieht man das einzige bekannte Bild von der Rückseite des Fuldaer Bahnhofs – das große Bild zeigt die Vorderfront. So konnte man lokalisieren, wo genau die Deportierten standen. Auf einem anderen Foto hat ein Mitglied der Projektgruppe markiert, was an Gepäckstücken oder Menschen auffällt. Ein Jugendlicher ist zu sehen – erkennbar daran, dass er schmaler und kleiner als die anderen Männer ist und keinen Hut trägt. Sie erklärt, dass die weiße Farbe an den Häusern ‚Beleuchtung‘ war in den Nächten der Bombenangriffe – durch solche Hinweise kann man die Entstehungszeit besser einkreisen.
Ein Stück dunkler Geschichte, der wir uns gemeinsam stellen müssen. (Jutta Hamberger)+++