Jeder konnte es wissen, alle konnten es sehen

Zum Berliner Workshop der Projektgruppe "Jüdisches Leben in Fulda"

Abends vor dem Brandenburger Tor – am nächsten Tag beginnt der Workshop der Projektgruppe im Haus der Wannsee-Konferenz
© Anja Listmann

23.12.2024 / REGION - Es gibt wohl niemanden in Fulda, der sich so intensiv mit der Geschichte der Fuldaer Juden auseinandergesetzt hat wie Anja Listmann. Und es gibt auch niemanden, der besser als sie die Stelle als "Beauftragte für Jüdisches Leben" ausfüllen könnte – die sie seit 2021 innehat.

Über Auslöser und Anlässe



Wie kommt man dazu, sich so intensiv mit der Geschichte der Fuldaer Juden zu beschäftigen? In Anja Listmanns Fall liegen die Gründe in Bad Salzschlirf, ihrem Heimatort. Schon als Jugendliche empfand Anja Listmann den Umgang der Gemeinde mit dem Erbe ihrer jüdischen Mitbürger als beschämend. Sie wollte wissen. Sie fragte. Sie recherchierte. Und eckte damit an. Anja Listmann: "Mir wurden von allen Seiten Steine in den Weg gelegt. Aber ich habe mich schon damals nicht davon abbringen lassen das, was man vergessen oder unsichtbar machen will, für die jüdischen Familien sichtbar zu machen". Übrigens erinnert dank ihrer Beharrlichkeit seit 2019 eine Wand am Fuldaer neuen jüdischen Friedhof an die Salzschlirfer Juden.

Es ist also fast unvermeidlich, dass sie sich neben ihrer Berufstätigkeit als Lehrerin an der Bardoschule immer wieder und intensiv mit diesem Thema befasste. Sie suchte Fotos, Briefe, Dokumente, Menschen. Sie stellte Familienstammbäume auf, verfolgte Lebenswege und Lebenslinien. Einen kleinen Ausschnitt davon dokumentiert sie auf ihrer Website https://juden-in-fulda.org/.

Sehr schnell wurde Anja Listmann klar, dass man die Themen Drittes Reich, Rassismus, Antisemitismus und Shoah besonders jungen Menschen vermitteln muss. Im nächsten Jahr liegt das Weltkriegsende 80 Jahre zurück, eine halbe Ewigkeit. Zeitzeugen gibt es nur noch sehr wenige. Wie also spricht man über dieses rabenschwarze Kapitel deutscher Geschichte so, dass Jugendliche auch mit dem Herzen verstehen, was damals passierte?

Projektgruppe Jüdisches Leben in Fulda

Anja Listmann gründete 2011 die Projektgruppe "Jüdisches Leben in Fulda". Schüler:innen der Mittel- und Oberstufe widmen sich hier höchst unterschiedlichen Projekten zum jüdischen Leben in Fulda. Vielen ist sicher noch in Erinnerung, dass die Jugendlichen im Corona-Jahr 2020 Steine beschrieben und bemalten – ein Stein für jedes deportierte und ermordete jüdische Kind der Fuldaer Gemeinde. Mehrmals in den vergangenen Jahren beschrifteten sie Steine mit den Namen der Menschen, deren Gräber auf dem alten Jüdischen Friedhof geschändet worden waren, und legten sie am Gedenkstein am Jerusalemplatz ab. Immer geht es darum, etwas zu tun – und darüber nachzudenken und zu sprechen. Immer geht es um Empathie. Immer geht es darum, eine persönliche Ebene zu finden.

Im aktuellen Projekt geht es um Fotos aus der NS-Zeit. Vor Ihrem inneren Auge ziehen jetzt vielleicht Fotos vorbei, die Sie gesehen haben und an die Sie sich erinnern. Fotos scheinen den meisten unbestechlich, man sieht schließlich, was drauf ist. Anja Listmanns Projekt aber stellt diese Grundannahme in Frage. Sehen wir, was drauf ist, oder sehen wir, was wir sehen sollen?

Sehen lernen

Es gerät leicht aus dem Blick, dass alle bekannten Fotos aus dem NS-Staat Täter-Fotos sind, das heißt, sie sind inszeniert, sie sollen eine bestimmte Botschaft oder Ideologie vermitteln. Kein ‚Modell‘ wird hier freiwillig fotografiert. Viele Bilder wurden heimlich aufgenommen, manche waren auch Auftragsarbeiten. Zu diesen zählt das sogenannte "Auschwitz-Album", das im Mai 1944 in Auschwitz entstand – der Fotograf war Ernst Walter, der im Auftrag von Lagerkommandant Rudolf Höss die Ankunft und Ermordung der ungarischen Juden für seinen Dienstherrn Himmler dokumentierte und dabei auch ein Album für sich selbst anfertigte. Die Fotos der sogenannten "Ungarn-Aktion" waren nicht dafür gedacht, jemals ‚normalen‘ Bürgern gezeigt zu werden. Beim überstürzten Abmarsch aus Auschwitz nahm Walter, der ins Konzentrationslager Mittelbau-Dora versetzt wurde, das Album mit und ließ es dann bei seiner Flucht dort liegen. Lilly Jacob, eine der deportierten ungarischen Jüdinnen, fand es zufällig, und sah darin Fotos ihrer Familie und von Freunden. 1980 übergab sie das Album der Gedenkstätte Yad Vashem.

Genauso kritisch muss der Umgang mit den Fotos sein, die von Soldaten der Wehrmacht bei den sogenannten "Umsiedelungen" oder "Sonderbehandlungen" gemacht und nachhause geschickt wurden. Warum überhaupt macht jemand Fotos von Menschen, die erhängt, erschossen, geschlagen oder erniedrigt werden – obwohl das strengstens verboten war? Sollte hier die eigene Leistung dokumentiert werden, sollte bewiesen werden, wie gesinnungsfest man war? Viele Informationen findet man hierzu in den Katalogen zu den beiden Wehrmachtsausstellungen, die das Hamburger Institut für Sozialforschung zwischen 1995 und 1999 und 2001 und 2004 als Wanderausstellung zeigte. Beide setzen sich mit dem Vernichtungskrieg auseinander, den auch die Wehrmacht führte. Die Ausstellungen trugen erheblich dazu bei, den Mythos der ’sauberen‘ Wehrmacht abzuräumen.

All diese Fotos muss man deshalb mit wahrhaft detektivischem Blick betrachten. Es geht immer darum, die Wahrheit hinter dem Bild zu verstehen. Im New Yorker YIVO Institute for Jewish Research ( https://www.yivo.org) liegen die Originale der drei einzig bekannten Fotos von Deportationen Fuldaer Juden am 08.12.1941. Die Bilder gibt es auch im Stadtarchiv, dort aber in weitaus schlechterer Qualität.

Im Mai 2024 kontaktierte Lisa Paduch, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei #LastSeen, Anja Listmann und teilte ihr mit, es gäbe zwei weitere und bislang unbekannte Fotos dieser Deportation. Können Sie sich vorstellen, wie elektrisiert Anja Listmann war? Die beiden Frauen recherchierten drei Tage lang gemeinsam. Sie fanden weitere Überlebende der Deportation, die heute in den USA leben, kontaktierten weitere Nachfahren, den möglichen Fotografen der Bilder sowie dessen Nachfahren.

Die Projektgruppe wird in das Forschungsprojekt eingebunden

Weil die Mitarbeit der Jugendlichen so wichtig war, wurden sie in das Forschungsprojekt eingebunden und zu einem Workshop nach Berlin ins Haus der Wannseekonferenz eingeladen. Den Jugendlichen wiederum war dieses Forschungsprojekt so wichtig, dass sie für den Workshop in Berlin teilweise Urlaub nahmen, um dabei sein zu können – denn nicht alle sind noch Schüler:innen. Sie machte Fotografien vom heutigen Güterbahnhof, versuchte, den Ort der Deportation zu lokalisieren und herauszufinden, wer auf den Fotos abgebildet war.

Sie stellten Fragen: Wen sieht man da?, Wo ist die Aufnahme entstanden?, Zu welcher Tageszeit?, Wo genau stand der Fotograf? Wie ist die Atmosphäre der Bilder? und so weiter. Die Ergebnisse ihrer Recherche präsentierten die zwölf Jugendlichen während des Workshops. Den Workshop organisierten Lisa Paduch von #LastSeen und Madlen Seidel, Bildungsreferentin im Haus der Wannseekonferenz. Die beiden waren mehr als beeindruckt von dem, was die Jugendlichen erarbeitet hatten.

Am ersten Workshop-Tag ging es um die Frage, wie man historische Fotografien analysiert. In kleinen Gruppen bekamen die Jugendlichen Deportationsfotos von verschiedenen Orten vorgelegt verbunden mit der Aufgabe, diese auf einem Zeitstrahl zu sortieren. Bei der Vorstellung sollten sie vo allem auf das eingehen, was ihnen aufgefallen war.

Und ihnen war viel aufgefallen. Drei der Fotos zeigen viele Deportierte, im Hintergrund steht ein Haus. Auf zwei Fotos sind die Vorhänge zugezogen, auf einem sind sie geöffnet und man sieht eine Person, die offensichtlich die Deportation beobachtet. Die Fotos mit den geschlossenen Vorhängen entstanden vor dem anderen, das konnte man an der Art ablesen, wie die Menschen sich bewegten.

"Menschen sind weder unsichtbar noch unüberhörbar", so Anja Listmann – die dem Entschuldigungs-Mantra "Wir haben doch nichts gewusst" eine scharfe Absage erteilt. "Jeder konnte es wissen, weil jeder es sehen konnte. Vieles geschah am hellichten Tag und vor aller Augen."

Die Jugendlichen lernten, wie vorsichtig man mit Interpretationen oder Zuschreibungen sein muss. Wenn eine Person auf einem Foto lächelt, heißt das eben nicht notwendigerweise, dass sie froh gestimmt ist. Das Lächeln kann befohlen worden sein, es kann auch ein innerlich verspanntes, ängstliches Lächeln sein. "Ihr dürft nie vergessen – niemand auf diesen Fotos wurde freiwillig fotografiert", so die Organisatorinnen des Workshops.

Diese Menschen wurden aus Fulda deportiert

Am zweiten Workshop-Tag ging es um die Deportationsfotos aus Fulda. Wieder suchten die Jugendlichen nach Markern: Wieviel Schnee liegt auf dem Koffer auf dem einen, wieviel auf dem anderen Foto?, Wo habe ich diesen Rucksack schon einmal gesehen?, Was nehme ich an dem Gebäude wahr? Was bedeutet die weiße Lackierung?, wen können wir identifizieren?, und so weiter.

Ein Mitglied der Gruppe stellt vor, was sie zu den Fuldaer Fotos herausgefunden hat. Sie zeigt eine Postkarte von 1905. Unten links in der Ecke sieht man das einzige bekannte Bild von der Rückseite des Fuldaer Bahnhofs – das große Bild zeigt die Vorderfront. So konnte man lokalisieren, wo genau die Deportierten standen. Auf einem anderen Foto hat ein Mitglied der Projektgruppe markiert, was an Gepäckstücken oder Menschen auffällt. Ein Jugendlicher ist zu sehen – erkennbar daran, dass er schmaler und kleiner als die anderen Männer ist und keinen Hut trägt. Sie erklärt, dass die weiße Farbe an den Häusern ‚Beleuchtung‘ war in den Nächten der Bombenangriffe – durch solche Hinweise kann man die Entstehungszeit besser einkreisen.

Im Garten der Wannseevilla besuchten die Jugendlichen einen Gedenkstein: an diesem Täterort ist dies der einzige Gedenkstein für ein Opfer, einen Zwangsarbeiter. Die Jugendlichen legten Blumen zum Gedenken nieder. Erinnern heißt für die Projektgruppe: wir tun etwas an einem bestimmten Ort, wir denken an bestimmte Menschen – und wir tun das für ‚unsere‘ Menschen. Jedem Jugendlichen nämlich ist es überlassen, aus der Vielzahl der Opfer die Menschen für sich auszuwählen, denen er sich besonders verbunden fühlt. So ‚erinnert‘ jeder Jugendliche ein bis fünf der nach Auschwitz und Theresienstadt deportierten Menschen. Und auf einmal geht es nicht mehr abstrakt um sechs Millionen, sondern um die Familie Eschwege oder die Familie Lehmann aus Fulda. Die ständige Ausstellung in der Wannsee-Villa besuchten die Jugendlichen auch, und betrachteten sie vor allem im Hinblick auf Bildanalyse.

Der breiten Öffentlichkeit werden die Ergebnisse der Projektgruppe und die fünf Fuldaer Deportationsfotos am 23. Januar um 18:00 Uhr im Marmorsaal präsentiert – die drei bekannten, und zwei bis dato nicht bekannte Fotos. Am selben Tag werden sie auch auf der Webseite von #Lastseen (#lastseen Bildatlas) gelauncht, zusammen mit den Recherchen der Jugendlichen und weiteren Angaben zum Transport.

Ein Stück dunkler Geschichte, der wir uns gemeinsam stellen müssen. (Jutta Hamberger)+++

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