Keine Taktik bei Vertrauensfrage
Politisches Erdbeben in Berlin: Jetzt braucht es schnellstens einen Neuanfang
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07.11.2024 / KOMMENTAR - "Zurückhaltend, etwas distanzierter, gleichzeitig jedoch auch geradlinig": So werden Hanseaten gerne beschrieben. Bundeskanzler Olaf Scholz (66, SPD) lebte und wirkte viele Jahre in der Hansestadt Hamburg, seit Dezember 2021 ist er Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und wirkt von Berlin aus.
Auf mich wirkte er typisch "hanseatisch" - oftmals zu ruhig. Selten hat er sich an uns Bürger, das deutsche Volk, gewandt. Selten hat er zumindest nach Außen hin auf den Tisch gehauen, hat vielmehr seine Pappenheimer machen lassen und wohl eher intern versucht, die viel zu unterschiedlichen Positionen seiner Ampelpartner auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Das konnte und kann auf Dauer nicht gut gehen. Zumal alle Protagonisten vor allem erstmal auf sich selbst und dann auf ihre Partei schauen.
Das hat sich am späten Mittwochabend bestätigt. Als ich die Liveübertragung seiner Rede vor der versammelten Hauptstadt-Presse auf N-TV verfolgte, dachte ich mir: Was macht er? Was sagt er? Vor allem stellte er seinen bisherigen Finanzminister und Koalitionspartner Christian Lindner (FDP) derart an die politische Wand, wie es so gar nicht "hanseatisch" wirkt. Er wolle Schaden vom Land abwenden, deshalb müsse er Lindner entlassen. Zwar im ruhigen Ton, aber die Wortwahl - gar nicht - na, sie wissen schon.
Der ersten Einordnung des politischen Bebens in Washington am Tag folgte das Chaos am Abend in Berlin. Scholz nannte nach seiner Lindner-Rasur einige Punkte, wie er Deutschland auf Vordermann bringen wolle, bemühte sich, Optimismus zu verbreiten, richtete sich ans Volk, um ziemlich am Ende seines Statements zu verkünden, dass er am 15. Januar 2025 die Vertrauensfrage im Bundestag stellen wolle.
Wie bitte? Entweder man spürt Vertrauen - oder eben nicht. Aber gut zwei Monate vorher anzukündigen, wann ich die Frage stellen will? Das passt nicht. Es geht einfach um viel zu viel für uns Bürger, für Arbeitnehmer und übrigens auch als Arbeitgeber. Ständig gibt es negative Nachrichten aus der Wirtschaft. VW will Werke schließen - die Unsicherheit wächst. Was ist die Folge? Wir verkriechen uns, werden noch vorsichtiger, die Wut steigt, Extreme freuen sich, wollen uns als Wähler abgrasen. Und genau dies ist das falsche Signal. Deutschland braucht einen Neuanfang - sofort. Wer es ernst mit uns meint, muss das wollen. Es ist keine Zeit für politisches Taktieren. Das wurde viel zu lang versucht.
Die beiden großen Volksparteien müssen jetzt Kraft geben, müssen den Dampfer "Deutschland" aus dem drohenden Sumpf ziehen. Sonst wird der Schlamm immer tiefer. Wer es ernst meint mit Demokratie, mit Respekt, Toleranz und Solidarität - der muss jetzt entsprechend handeln. Eine Weihnachtszeit in noch größerer Unsicherheit - das haben wir nicht verdient. Rauft Euch zusammen, Berlin. Die Union will Verantwortung übernehmen - jetzt muss sie handeln und zeigen, dass sie es ernst meint. CDU-Parteichef Friedrich Merz hat eine Zusammenarbeit angekündigt - wenn Scholz die Vertrauensfrage unverzüglich stellt. Wird Scholz weiter auf Zeit spielen oder dem Volk die Chance geben, schnellstmöglich eine neue Regierung wählen zu dürfen? Hanseaten wird ein "korrekter Charakter" nachgesagt. Ich bin gespannt, ob Olaf Scholz diesen Anker setzt. Jetzt und nicht erst im Januar 2025. Eine Minderheitsregierung in der aktuellen Zeit - das wird nicht funktionieren. (Hans-Hubertus Braune) +++
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