Der Stadtpfarrer bei O|N

Impuls von Stefan Buß: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr ...

Stadtpfarrer Stefan Buß.
Archivfoto: O|N/ Hendrik Urbin

19.10.2024 / FULDA - Wer kennt es nicht das bekannte Sprichwort: das mit dem Kamel und dem Nadelöhr. Vermutlich haben Sie es schon gehört oder selbst verwendet. Dieses geflügelte Wort meint, dass irgendetwas unmöglich passieren kann, schließlich kann man selbst das kleinste Kamel nicht durch das größte Nadelöhr quetschen. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr. Dieses Sprichwort nimmt auch Jesus in den Mund. Wir verwenden in der Regel nur diesen ersten Teil.



Häufig vergessen wird oder überhaupt nicht bekannt ist die wichtige Präzisierung, die Entfaltung, die Jesus im zweiten Teil anspricht. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Da stellt sich die Frage: Ist es also für Reiche unmöglich, in den Himmel zu kommen? Und ab wann ist man denn eigentlich reich, ab 2000 Monatsgehalt? Schaut Gott den auf den Lohnstreifen und das Girokonto? Muss ich etwa am letzten Tag sozusagen eine Lohnsteuererklärung für den Himmel machen? Nun diese Fragen machen deutlich, dass man dieses Wort vom Nadelöhr und dem Kamel nicht einfach ganz platt übernehmen kann. Dass wussten auch schon die Bibelwissenschaftler. Und sie haben dabei etwas Erhellendes herausgefunden. Wenn Jesus vom Nadelöhr spricht, dann spricht er mit aller Wahrscheinlichkeit von einem Stadttor in Jerusalem.

Zur Zeit Jesu waren alle Städte mit Mauern umgeben, die mit einigen Toren versehen waren. Diese wurden allerdings aus Sicherheitsgründen nachts verrammelt und verriegelt, damit keine feindlichen Truppen eindringen konnten. Wer also bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht rechtzeitig die Stadt erreicht hatte, musste draußen übernachten. In Jerusalem aber gab es eine kleine Tür, die immer geöffnet war. Tag und Nacht. Sie war allerdings so eng und niedrig, dass dort keine Angreifer mit Rüstung und Waffen eindringen konnten, sondern nur einzelne Personen und das auch noch gebückt. Und dieser Eingang hieß im Volksmund damals "Nadelöhr".

Mit diesem Wissen im Hintergrund lässt sich besser verstehen, was der Jesus meint, wenn er sagt: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Wenn z.B. ein reicher Kaufmann mit seiner Karawane die Stadt Jerusalem nicht rechtzeitig vor Toresschluss erreicht hatte, um sich und seine Waren hinter den Mauern vor den Räubern in Sicherheit zu bringen, musste er sich entscheiden: Bleibe ich jetzt, diese Nacht draußen bei meinen voll beladenen Kamelen? Oder bringe ich mein Leben lieber in Sicherheit, indem ich durch das Nadelöhr in die Stadt hineingehe? Eins war klar: Seinen ganzen Besitz konnte er nicht mitnehmen. Der war zu sperrig für das kleine Tor. Der Reiche musste sich wohl oder übel davon trennen, es loslassen.

Jesus will die Menschen sensibilisieren mit diesem Wort vom Nadelöhr, sensibilisieren für die Anhänglichkeiten: Es ist gut, sich einmal damit zu beschäftigen, woran man denn so richtig hängt. Vielleicht erschrecken wir sogar darüber, wie sehr wir schon an manchen Dingen und Gewohnheiten kleben. Vollbepackt kommen wir nicht durch das Nadelöhr. Wir müssen loslassen lernen, so wie der Kaufmann von damals, wenn er des nachts in die sichere Stadt Jerusalem kommen wollte. Das Geheimnis liegt darin, das der Mensch durch das Nadelöhr gelangen kann, wenn er lernt, zu besitzen, ohne am Besitz zu kleben, wenn er lernt, die Dinge dieser Welt zu genießen, ohne das Herz von diesen Dingen und dieser Welt abhängig zu machen. (Stefan Buß) +++

X