Jüdisches Leben (2)

Der Dienstags-Treff für Holocaust-Überlebende in der jüdischen Gemeinde

Ohne die Frauen geht auch in der jüdischen Gemeinde gar nichts: Anna Reznikova, Svetlana Solomovich, Jutta Hamberger, Inna Evtuschenko, Bella Gusmann und Dina Hasanovic
Fotos: © Jutta Hamberger (7)

11.09.2024 / REGION - Treff für Holocaust-Überlebende – jede Woche treffen sich die Mitglieder der Fuldaer Jüdischen Gemeinde im Nebengebäude. Sie alle sind Überlebende – der Blokada in Leningrad, aus Ghettos oder Konzentrationslagern. Jeden Dienstag reden sie, wie man so schön sagt, über Gott und die Welt – und das ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen. Denn jedes Treffen hat drei Teile: Politik, Religion und Kultur. Und: es gibt immer etwas Gutes zu essen. Dafür sorgen die Frauen um Anna Reznikova, die seit über 15 Jahren diese Treffen organisiert.



"Ich bin schon zwei Stunden da", begrüßt sie mich, als ich mit staunenden Augen auf den liebevoll hergerichteten Teller schaue, der an jedem Platz steht. Eins ist mal gewiss: bei Veranstaltungen in der Jüdischen Gemeinde muss niemand Hunger leiden! Ungefähr 20 Mitglieder sind gekommen, ein paar Männer, überwiegend Frauen. Da die Fuldaer jüdische Gemeinde überwiegend russischsprachig ist, wird natürlich russisch gesprochen – mir als Gast, der nur wenige Brocken Russisch versteht, übersetzen Bella Gusman und Roman Melamed in Grundzügen, um was es gerade geht.

Solingen erschüttert auch in Fulda

Bella Gusman macht es sich jede Woche zur Aufgabe, auf das aktuelle Weltgeschehen und die Situation in Deutschland einzugehen. So kurz nach dem Messerattentat in Solingen kann sich niemand dem entsetzlichen Anschlag und den darüber entstandenen Diskussionen entziehen. Bella Gusman schildert, was bekannt ist, und was gerade die politische Diskussion bestimmt. Dann wendet sie sich an mich: "Jutta, Du weißt das bestimmt alles viel besser, vielleicht kannst Du uns etwas darüber sagen."

Ich weiß es zwar keineswegs besser, aber ich kann meine Einschätzung und Meinung darstellen – und tue das auch. Ich sehe, wie schnell junge Männer, die ohne Familie hierherkommen, die entwurzelt und womöglich traumatisiert sind, hier radikalen Rattenfängern auf den Leim gehen. Und dass dies längst nicht mehr in irgendwelchen ‚Zellen‘ in Deutschland geschieht, sondern im Internet. Auf diese Bedrohung muss die Politik Antworten finden, und zwar möglichst schnell. Ich sage, dass wir kritischer hinschauen müssen, wer nach Deutschland kommt – und dass für alle, die hier leben wollen, gilt, dass sie sich hier integrieren müssen. Und das sei mehr als das Befolgen von Gesetzen, es sei auch das Bekenntnis zu einer freiheitlichen, demokratischen Ordnung.

Ich spüre, dass viele der Anwesenden besorgt sind – es ist eine schwer greifbare Angst vor etwas Bedrohlichem. Wulf Berstein, dem man seine 91 Jahre nicht ansieht, fragt mich: "Aber die Grünen sehen das doch anders, oder?" Ich antworte ihm: "Das grüne Meinungsspektrum zu diesen Themen ist genauso vielfältig wie in anderen Parteien. Ich nehme wahr, dass sich bei vielen die Einsicht durchsetzt, dass wir viel kritischer hinschauen müssen, wer zu uns kommt."

Die Geschichte von Rabbi Eliezer

Dann kam der religiöse Teil und ich fühlte mich zurückversetzt in die Tage des Seelsorge-Unterrichts, als uns Pius-Pfarrer Werner Diegmüller immer mittwochs den Glauben nahebrachte. Auch er erzählte viel und las vor, um unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Roman Melamed macht es genauso, an diesem Tag las er aus dem Talmud die Geschichte von Rabbi Eliezer vor. Der behandelte Kranke mit Aderlassen, wie das zu seiner Zeit üblich war. Der Rabbi war bitterarm und hatte oft nichts zu essen. Einmal aß er eine Knoblauchzehe, worauf ihm schlecht wurde und er das Bewusstsein verlor. Im Zustand der Bewusstlosigkeit begegnete der Rabbi Gott und beklagte sich, dass er so ein elendes Leben führen müsse. Gott hörte ihm zu und bot ihm an, die Zeit zurückzudrehen, so dass er womöglich unter besseren Sternen geboren würde. Der Rabbi überlegte und wollte wissen, wieviel Zeit ihm denn überhaupt noch auf dieser Erde bliebe. "Wenig", antwortete Gott, worauf der Rabbi beschloss, doch lieber weiter in seiner Zeit zu leben.

Im Kommentar des Talmuds wird die Geschichte als Beispiel für die Verbindung von Judentum und Astrologie genommen. Mehrfach ist hier die Rede davon, dass jeder Mensch von Geburt an ein Himmelskörperbild hat, das seinen Charakter und damit auch sein Schicksaal beeinflusst. Die Geschichte illustriert natürlich auch, dass jedes Leben in Gottes Hand liegt und es für jeden Lebensweg einen göttlichen Plan gibt, den wir annehmen können – oder eben nicht.

Begegnung mit Ephraim Moses Lilien

Wenn man in der eigenen Gemeinde einen Künstler hat und dieser dann einen Vortrag über einen jüdischen Künstler hält, darf man darauf vertrauen, dass es spannend wird. Und so war es auch. Der ukrainische Künstler Vadym Koltun (1966), der in Fulda, Israel und seiner Geburtsstadt Charkiw schon mehrfach ausgestellt hat, stellte uns Ephraim Moses Lilien (1874-1925) als den "ersten zionistischen Künstler" vor. Das ist keine Übertreibung, denn Lilien stellte seine Arbeit fast völlig in den Dienst der jungen zionistischen Bewegung und prägte sie nachhaltig mit seinen Arbeiten.

Geboren wurde Lilien im galizischen Drohobycz (heute in der Ukraine im Kreis Lwiw/Lemberg), er wirkte als Grafiker, Illustrator, Maler und Fotograf. Wer Jugendstil schätzt, sollte sich Liliens Werk unbedingt anschauen, seine grafischen Arbeiten im Jugendstil und vor allem auch seine ExLibris sind großartig. Lilien war die Künstlerlaufbahn keineswegs in die Wiege gelegt. Die Eltern schlugen sich mehr recht als schlecht durch, und nur einem reichen Familienmitglied hat er es zu verdanken, dass er nicht Schildermaler werden musste, sondern die Realschule besuchen durfte. 1890 ging er zur Kunstschule in Krakau. Weil das Geld hinten und vorn nicht reichte, verdiente er durch Malen etwas hinzu. Für die Immatrikulation in Wien reichte sein Geld nicht, so ging er 1894 nach München, wo er erste Aufträge ergatterte. Seine finanzielle Situation blieb noch einige Jahre äußerst prekär.

Jüdische Balladen eines Antisemiten

Bekannt wurde Lilien mit seinen Grafiken zu "Juda", einer Balladensammlung des nicht-jüdischen Dichters Börries von Münchhausen. Das ist mehr als nur pikant, denn Münchhausen war Antisemit und schloss sich in den 1930er Jahren begeistert den Nationalsozialisten an, deren rassistische Kulturpolitik er aus vollem Herzen unterstützte. 1899 aber schloss er Freundschaft mit Lilien, der ihm anbot, seine Balladen zu illustrieren. Münchhausen sagte später, die Rabbiner und Zionisten, die er durch Lilien kennengelernt habe, hätten ihn zu seiner Balladensammlung "Juda" angeregt. Darin werden Figuren des Tanach – also der fünf Bücher Mose – wie Helden aus der Mythologie behandelt. Das Buch erschien bis 1922 in mehreren Auflagen und wurde in jüdischen Kreisen gern zur Bar Mitzwa verschenkt. Die Illustrationen sind sehr ausdrucksstark und berührend.

Und wie geht das alles mit Münchhausens Antisemitismus zusammen? Nun, in diesem Buch zeigt sich Münchhausen als Philosemit, aber eben als einer, der die Ansiedelung der Juden in Palästina bejahte und dem es nicht um ein Ende der Ausgrenzung jüdischer Menschen in Europa ging. Seine Sympathien mit dem Zionismus waren rassistisch und sozialdarwinistisch begründet. Juden sah er als ältesten Adel der Welt – neben dem Schwert- und dem Kaufmannsadel. Die jahrhundertelange Verfolgung der Juden habe alles Schwache ausgemerzt, übriggeblieben sei ein "Edelvolk". Klingt durchgeknallt? Ist es auch. Es verwundert nicht, dass Münchhausen sich die NS-Rassenideologie sofort zueigen machte.

Hellsichtige Bilder aus dem Ghetto

Ein weiteres Werk, das Lilien illustrierte, waren die "Lieder des Ghetto" von Morris Rosenfeld. Sie erschienen 1907 und beschrieben im Gegensatz zu den jüdisch-biblischen Helden den Alltag verarmter Juden in Osteuropa. Krassester Realismus also, zerlumpte Gestalten, abgemagert, müde vom harten Leben. Münchhausen mochte das Werk nicht, er sah es als Konkurrenz zu "Juda" und negierte die proletarischen und sozialdemokratischen Züge der Ghetto-Lieder. Bedenkt man, was mit den osteuropäischen Juden wenig später geschah, wirken Rosenfelds Illustrationen erschütternd hellsichtig. Einige seiner Werke werden heute in Jerusalem aufbewahrt, andere wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs beschlagnahmt und gelten seither als verschollen.

Sehr bewegt und nachdenklich verlasse ich an diesem Tag die Jüdische Gemeinde. Wieder einmal durfte ich dort eine Veranstaltung besuchen, die ich so vorher nicht kannte und deren Ablauf mich begeisterte. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der Unterschiedliches zusammengeht, die mir Freude macht. Und es ist das Engagement der Menschen, die seit Jahren dafür sorgen, dass dieses Angebot gemacht werden kann. Ich für mich habe den Frauen gleich den Ehrentitel "Die Dienstags-Frauen" gegeben – in Anlehnung an Mitch Alboms wunderbares Buch "Dienstags bei Morrie". Vom Hohen ins Tiefe und wieder zurück, mit Empathie, Inspiration und Fürsorge. Genau solche Ausflüge tun der Seele gut. (Jutta Hamberger)+++

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