Vollblutjuristin mit großem Herzen

Richterin Michaela Kilian-Bock: Die "kleine Blonde" hat es allen gezeigt

Michaela Kilian-Bock war unter anderem Richterin und Direktorin am Amtsgericht in Bad Hersfeld
Fotos (3): privat

29.07.2024 / BAD HERSFELD - Nach unserem Gespräch gehen wir einen langen Behördenflur im Amtsgericht Bad Hersfeld entlang. Ein paar Türen stehen offen. Aus einem der Räume schaut ein Mitarbeiter und sagt: "Ihr Lachen wird uns fehlen, Frau Direktorin". Es ist Freitagmittag, der letzte Arbeitstag von Michaela Kilian-Bock (64), gleich wird sie ihr Büro abschließen.



Ein sichtbar schweres Urteil einer Vollblutjuristin. Nach 37 Jahren als Richterin und Führungskraft in verschiedenen Behörden, Abteilungen und Aufgaben soll jetzt beruflich Schluss sein? Schwer vorstellbar. Wir treffen Kilian-Bock zu einem Interviewtermin. Diese eine Stunde verfliegt im Nu, knapp 16 Seiten Notizen ergeben den Eindruck: Sie kann so viel aus ihrem Berufsalltag erzählen und keine Sekunde wird nur ansatzweise langweilig.

Michaela Kilian-Bock und ihr Ehemann Rechtsanwalt Michael Bock sind prägende Gesichter der Justiz in Osthessen. In Marburg haben sie sich natürlich durch den Beruf kennengelernt. "Wir sind beide Vollblutjuristen und voll in unserem Beruf aufgegangen. Aber alles hat seine Zeit, ich habe den Zeitpunkt selbst gewählt. Mein Mann macht gedämpft weiter, oder: Möchte der Herr Bock jetzt zu Hause sitzen und stricken? Nein, sein Wissen ist so wertvoll", sagt Kilian-Bock. Seit dem Jahr 2012 war sie Direktorin am Amtsgericht in Bad Hersfeld, davor viereinhalb Jahre Vizepräsidentin am Landgericht in Fulda.

Völliger Umbruch der Justiz

Normal könnte sie noch eineinhalb Jahre weitermachen. "Das Ganze ist für mich nicht mehr vorstellbar, auch angesichts dieses völligen Umbruchs in der Justiz", sagt sie. Denn bis zum 1. Januar 2026 muss alles auf die elektronische Akte umgestellt sein. Die Digitalisierung hält Einzug, was Kilian-Bock grundsätzlich gut und richtig findet. Ob die Technik bis dahin funktioniert? Beim Blick auf ihren Computer hat sie da ein wenig Zweifel, um es kulant auszudrücken.

"Ich gehöre ja der Generation aus dem Mittelalter an, der Welt der Papierakte." Am 1. Oktober 1987 bei ihrem Berufsstart, "da war die juristische Welt eine ganz andere". Sie hat viele Veränderungen mitgemacht. Damals waren Frauen in der Justiz ganz selten, es war eine Männerdomäne. Die gesetzteren Herren haben oft gefragt: "Kann die kleine Blonde überhaupt was?"

Später haben sie sich entschuldigt. "Das wäre heute nicht mehr denkbar, das wäre Mobbing pur", sagt sie und hat es nicht nur diesen Herren gezeigt. 19 Jahre als richterliches Mitglied am Hessischen Staatsgerichtshof stehen in ihrer Vita. "Das war eine Riesen-Ehre, ich war da schon stolz drauf. Und die Sprache war dort eine ganz andere als im Amtsgericht, erzählt sie.

"Ich habe früher auch mein Mofa frisiert"

Besonders mit ihrer Erfahrung aus dem Familien- und Strafrecht konnte sie sich dort einbringen. Die anderen Verfassungsrichter kamen ja aus dem Verwaltungs- und Verfassungsrecht. Sie erzählt uns von den Unterschieden. "Am nächsten Tag saß ich am Amtsgericht im Saal acht vor jugendlichen Straftätern." Das Jugendstrafrecht habe sie besonders gern gemacht. Sie denkt dabei an ihre eigene Jugendzeit zurück. "Ich hatte das Glück, in einem Elternhaus mit Bildung aufwachsen zu können, ich durfte aber auch frech sein und habe sicher nicht alles richtig gemacht. Ich habe früher auch mein Mofa frisiert, ich kann das. Ich fand es dann toll, wenn jemand für mein Fehlverhalten Verständnis aufbrachte; so wollte ich auch sein", sagt Kilian-Bock.

"Da kannst Du auch mit einem Mehlsack reden"

Sie erzählt von einem Ordner voller Fan-Post. Selbst aus dem Gefängnis habe sie Briefe erhalten. Ein Mann kam später zu ihr ins Gericht und zeigte der Richterin Familienfotos und seinen Arbeitsvertrag. "Wenn sie mich nicht eingesperrt hätten, dann wäre ich heute nicht das, was ich bin." Sie sagt: "Die Hersfelder Breitenstraße, die grüßt mich ganz freundlich". Auch bei den jungen Menschen gibt es viele, die den Gang ins Gericht durchaus als Chance begreifen und von ihrem strafbaren Handeln wegkommen. "Bei anderen ist dagegen Hopfen und Malz verloren. Da kannst Du auch mit einem Mehlsack reden, der gibt wenigstens keine böse Antwort."

"Sie spucken Dich an"

Kilian-Bock nimmt kein Blatt vor dem Mund und benennt Dinge, die ansonsten lieber verschwiegen werden. So hat sich das Verhalten im Gericht in den vergangenen zehn, 15 Jahren geändert, gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund. "Es gab immer Wellenbewegungen, erst kamen die Türken, dann die Marokkaner, dann die Russen, nun aus vielen Ländern." Der mittlerweile fehlende Respekt schockiert auch Kilian-Bock. Eine Kollegin in Robe sei mit hier nicht schreibfähigen Worten beschimpft worden. "Das ist völlig respektlos. Ich habe gesagt, ab in die Zelle, das ist eine derartige Missachtung des Gerichts". Und sie sagt weiter: "Gewisse Dinge, besonders Beleidigungen, können sie auf Deutsch, sie spuken Dich an, sie spucken auf den Tisch. Das machte ja selbst der größte Verbrecher, den ich erlebt habe, nicht", sagt Kilian-Bock. Teilweise wird eine Frau als Richterin überhaupt nicht akzeptiert.

"Du hast das letzte Wort, ich das allerletzte"

Als Richterin sei sie auch nur ein Mensch: "Je frecher er ist, desto mehr sage ich mir, so Junge, Du hast das letzte Wort, ich das allerletzte. Das hat manchmal geholfen". Natürlich führe die heutige Zeit mit den Mobiltelefonen zu neuen Gefahren, etwa bei der Verbreitung von Videos mit sexuellem Inhalt. In einem Fall schickte ein Junge ein Video mit Inhalten, die man nicht verschicken sollte. Dummerweise nicht an die Angebetete, sondern seinem "Konkurrenten". "Jetzt weiß die ganze Welt von dem Video, nicht nur der Inner Circle und irgendwann ploppt es immer wieder auf", sagt die erfahrene Richterin und will sensibilisieren, dass im Internet eben auch Gefahren lauern.

Ein unvergleichbar schlimmer Fall bleibt in ihr haften, bewegt sie noch heute: Im Jahr 2010 vor dem Landgericht Fulda ging es um schweren sexuellen Missbrauch. "Da habe ich mir gewünscht, dass mir mal jemand zur Seite steht. Ich war die Vorsitzende der Kammer, musste die Regisseurin sein und war selbst emotional betroffen", sagt sie. Ein Mann hatte eine Frau vergewaltigt und dann ein zweijähriges Kind und dies auf Video festgehalten. Dieses Video musste sich das Gericht anschauen und weil es kaum zu ertragen war, die Sitzung mehrmals unterbrechen. Das ging uns allen so nah, die Referendarin ist, glaube ich, umgekippt, alle waren angespannt. "Wir sind anschließend in die Wiesenmühle gegangen und haben alle ein großes Bier getrunken, um überhaupt mal irgendwie klarzukommen", sagt sie.

"Ich stand auf seiner Todesliste auf Position vier"

"Aus meinem Wortschatz ist folgender Satz gestrichen: Das glaube ich nicht, das kann nicht sein." Es könne alles sein. Ob sie denn nicht Angst gehabt habe, dass sich jemand rächen könne? Nein. Einmal allerdings wurde es deutlich heißer. Als Familienrichterin hat sie circa 4.600 Ehen geschieden. 9.200 Menschen, dazu die Angehörigen - unvorstellbar. Ein Mann war mit der Scheidung nicht einverstanden. "Ich stand auf seiner Todesliste auf Position vier. Nachdem er Position zwei getötet hatte, wurde er gefasst", sagt sie. Er sitzt nun lebenslänglich hinter Gittern. Zweimal wurde sie über längere Zeit von der Polizei beschützt.

Ihr ist klar, dass man in ihrer Position nicht nur Freunde hat. Ihrer Leidenschaft für den Beruf tat dies keinen Abbruch. Und sie sagt ihre Meinung mit aller Deutlichkeit, etwa zum Cannabis-Gesetz. "Ich bin völlig entsetzt. Bevor das Gesetz in Kraft getreten ist, wurden viele Mediziner und Richter gefragt, die sich überwiegend ablehnend geäußert haben. So konnte das nicht auf den Weg gebracht werden. Auch ich habe eine lange Stellungnahme geschrieben. Das hätte ich mir sparen können. Ich halte das für nicht richtig, schon gar nicht die Rückwirkung für die Vergangenheit", sagt Kilian-Bock. Das alte Gesetz hatte auch seine Chancen. "Wenn so ein kleiner Kiffer vor mir stand, den habe ich doch nicht verurteilt, aber ich konnte Einfluss nehmen", sagt die Richterin mit dem realen Blick in die Welt.

Doch wie ist das in einer Ehe zwischen Richterin und Rechtsanwalt? Natürlich tauschen sie sich aus, zehren vom Fachwissen des Partners. Und ein einziges Mal standen sie sich im Gerichtssaal gegenüber. Bei einer Ehescheidung. Zwei Anwälte waren ausgefallen und das Paar wollte unbedingt geschieden werden. Michael Bock sprang ein. Das Paar wurde vor der Verhandlung natürlich aufgeklärt. "Da waren wir als Richterin und Rechtsanwalt keine Eheleute. Er hat mich als Frau Vorsitzende angesprochen. Und er durfte nur sprechen, wenn ich ihm das Wort erteilt habe", lacht Kilian-Bock.

"Ich bin sowohl ernst als auch komisch"

Die eine Stunde Gesprächszeit ist bereits vorbei und längst nicht alle Notizen haben den Weg in den Artikel gefunden. Etwa, dass sie bekennende Anhängerin des Fußballvereins Borussia Dortmund ist, dass Jürgen Klopp ja auch aufgehört habe. Das Brennen für den jeweiligen Beruf - das eint sie. Das will sie weitergeben. "Ich bin sowohl ernst als auch komisch", sagt Kilian-Bock und erzählt, dass sie drei Ordner voller "Witz-Justiz" im Schrank stehen habe.

Erstmal mal aber wolle sie nichts machen. Außer, mit ihrem Mann auf Reisen gehen. Dreimal dürfen Sie raten, was die beiden Vollblutjuristen dort besuchen? Natürlich - das örtliche Gericht. Die Geschichte mit der hüpfenden Perücke eines Verteidigers bei einem Mordprozess in Edinburgh zum Beispiel passt dazu. Michaela Kilian-Bock kann so viel, so herrlich amüsant und gleichzeitig ernst erzählen. Vielleicht steht sie ja mal auf einer Bühne oder schreibt ein Buch? Wir werden uns alle amüsieren und bei der einen oder anderen Gegebenheit zum Nachdenken angeregt. (Hans-Hubertus Braune) +++

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