Jüdisches Leben in Fulda (3)
Die Rabbiner-Villa in der von Schildeck-Straße - Zeugnis bürgerlicher Identität
Hellerleuchtet zeigt sich die Rabbiner-Villa in all ihrem Glanz
Fotos: Jutta Hamberger
15.12.2024 / FULDA -
Die Geschichte trennt Juden und Nichtjuden nicht, aber sie zwingt uns zur Auseinandersetzung, ganz besonders in Deutschland. Und das eigentlich jeden Tag aufs Neue. Ohne einen empathisch-differenzierten Blick in die Zukunft und die Vergangenheit zugleich geht es nicht. Ein guter Startpunkt sind Orte jüdischen Lebens. Im sogenannten Tausendjährigen Reich wurden auch in Fulda viele davon zerstört, und oft ist die Erinnerung daran verblasst. Kommen Sie heute mit mir zu einem Ort, der einst Ort religiösen Lernens war und somit neben der Synagoge einer der Mittelpunkte des Fuldaer jüdischen Lebens.
Zu Besuch in der Rabbiner-Villa
Wer die von-Schildeck-Straße hinunter- oder hinauffährt, kommt gar nicht umhin, das prächtige Gebäude mit der Nummer 12 zu bewundern. Eine herrschaftliche Villa, deren Ausstrahlung auch heute wirkt. Geht man zum Eingang des Hauses und liest dort die Informationstafel, erfährt man, dass hier einst der Provinzialrabbiner der Fuldaer Gemeinde, Dr. Michael Cahn, wohnte und arbeitete. Ein Rabbiner in diesem riesigen Haus? Nein. Als Cahn die Villa bauen ließ, hatte er gleich vor, andere Familienangehörige und Mietparteien mit hineinzunehmen. Neben ihm und seiner Familie wohnte hier auch sein Sohn Leo Cahn mit dessen Familie, dazu viele Mieter und Tora-Studenten, und natürlich auch Dienstboten. Das große Haus war einst also mit viel Leben erfüllt. Nachlesen kann man das alles in dem vor wenigen Monaten erschienenen Buch "Die Fuldaer Rabbiner-Villa".
Für Historiker ist es ein wahres Glück, dass die Nationalsozialisten ihre Untaten so akribisch dokumentierten. Aus Meldekarten, Adressbüchern, Geburts- und Sterberegistern, Heiratsurkunden und den Listen des weit unter Wert versteigerten Hausrats der Cahns erahnt man das Selbstbewusstsein der jüdischen Mittel- und Oberschicht. Auch die Rabbiner-Villa zeugt davon. Michael Cahn wählte sich keinen Geringeren als den renommierten Architekten Karl Wegener als Bauherrn aus. Der war in Fulda bekannt – viele Bauwerke von ihm kann man noch heute bestaunen, etwa die Adalbertstraße 41 und 43, die Elisabethenstraße 3, die Parkstraße 11, die Lindenstr. 6a, die Petersberger Str. 18a und die ehemalige Polizeiwache in der Sturmiusstraße 3/5. Alle Häuser atmen den Geist selbstbewussten Bürgertums – sie gehörten Menschen, die in und für die Stadt etwas geleistet hatten und sich ihres Status‘ sehr wohl bewusst waren.
Cahn war eine charismatische, in Fulda angesehene Persönlichkeit. Und er war Repräsentant des orthodoxen Judentums – all das zeigt sich auch an dieser Villa. Als er am 01. Januar 1920 in seinem Haus starb, wurde darüber überregional berichtet. Auch die vielen Trauergäste bei der Beisetzung am nächsten Tag zeigten, welches Ansehen Cahn genossen hatte. Sein Sohn Leo folgte ihm 1919 im Amte des Provinzialrabbiners nach. Er hatte das Amt bis 1938 inne und entschloss sich nach der Pogromnacht zur Auswanderung.
Wer wohnt heute in der Villa?
Die Rabbiner-Villa kann man nicht einfach so besichtigen. Eine Möglichkeit ist es, eine Veranstaltung des Fuldaer Geschichtsvereins zu besuchen, wenn Fuldas jüdische Geschichte und Tradition auf dem Programm stehen. So findet die Reihe "Unbekannte Nachbarn" in der Rabbiner-Villa statt – zuletzt am 5. Dezember mit Martin Doerry. Allerdings ist bei diesen Veranstaltungen keine Hausführung inkludiert. Also vereinbarte ich einen Termin mit Ingeborg Kropp-Arend und ihrem Mann, die das Gebäude 2015 von Ingeborg Kropp-Arends Vater übernahmen, der es 1999 gekauft hatte. Die beiden nehmen sich des Hauses und seiner Geschichte vorbildlich an.
Betritt man das Gebäude durch den links gelegenen Nebeneingang, gelangt man im Erdgeschoss zum Atelier der Herren-Maßschneiderin Friederike Lips. Im Erdgeschoss lag seinerzeit die Wohnung von Rabbiner Cahn. Die Räume atmen Großzügigkeit und Selbstbewusstsein. Hier – so vermutet man – empfing der Rabbiner seine Gäste. Im Englischen gibt es dafür das wunderbare Wort "Morning Room", auf Deutsch heißt es etwas prosaischer Empfangszimmer. Die alten Stuckdecken und die großzügige Fensterfront nach außen sind erhalten, und Friederike Lips akzentuiert mit großen und kleinen Einrichtungsdetails die Geschichte der Räume.
"Uns ist wichtig, wer hier wohnt", so Ingeborg Kropp-Arend. "Ich möchte, dass sich alle der Geschichte des Hauses bewusst sind und sie ehren." So gesehen können sich alle jetzigen Mietparteien geehrt fühlen, dass sie hier ‚residieren‘ dürfen. Ingeborg Kropp-Arends Mieterkonzept für das Haus setzt auf Co-Working und Networking, denn "das verbindet die historischen Räume mit neuen Ideen und Formaten der modernen Arbeitswelt."
Liebevoll und meisterlich restauriert
Als die Familie Kropp das Haus übernahm, waren einige Restaurierungsarbeiten nötig. Begeistert zeigt Ingeborg Kropp-Arend mir Details. "Schauen Sie mal das Treppengeländer an, es ist das historische, aber es genügte heutigen Sicherheitsanforderungen nicht mehr. Früher waren die Menschen kleiner, heute muss ein Geländer höher sein". Was tun, ohne die historische Substanz zu zerstören oder zu verfälschen? "Wir haben Erhard Kiszner aus Rönshausen in der Gemeinde Eichenzell kontaktiert. Wir dachten, er hat die Portale des Fuldaer Doms hergerichtet, dann weiß er auch Rat für unser Treppengeländer." Und genauso war es auch. Wer es nicht weiß, sieht nicht, dass das Geländer einfach ein Stück hochgesetzt wurde.
Handwerkskunst und Schutz der alten Bausubstanz haben alle Maßnahmen im Haus begleitet. "Schauen Sie sich mal die Unterseite der Treppenstufen an", fordert mich Stefan Arend auf. "Das ist der alte Stein, den haben wir erhalten können." Sogar der Keller ist besonders, hell und licht, man möchte die großen aus Sandstein gebauten Räume fast wohnlich nennen. Und – bei keinem Hochwasser hat die Rabbiner-Villa je gelitten, im Gegensatz zu vielen anderen Häusern in der Gegend.
Und doch ein Gefühl der Trauer
So schön die Räume auch sind, so meisterhaft und liebevoll alles restauriert wurde, beim Gang durch das Haus empfinde ich ein starkes Verlustgefühl. In diesen prächtigen Räumen mit ihren Parkettböden und Stuckdecken lebten, arbeiteten und liebten einst Menschen. Da Cahn gegenüber den Behörden sein Vermögen offenlegen musste und diese Dokumente im Archiv zu finden sind, wissen wir, dass der Provinzial-Rabbiner eine große Bibliothek sein eigen nannte, in der natürlich religiöse Schriften standen, aber eben auch viele deutsche Klassiker. Das Wohnzimmer war gut bürgerlich und repräsentativ in Eiche eingerichtet, gleiches gilt für das Studierzimmer des Rabbiners. Fotos seiner Wohnung gibt es keine, aber die Bestandslisten der erzwungenen Haushaltsauflösung existieren. Man ersieht daraus, wie sehr die Cahns sich der deutschen Kultur und Heimat verbunden fühlten.
Vor meinem inneren Auge möbliere ich die Räume. Ich stelle mir vor, wie der Rabbiner im Studierzimmer morgens die Zeitung las, Reden schrieb, seine Schüler unterrichtete, Gäste empfing und beim Essen mit der ganzen Familie zusammenkam. Ich sehe, wie die Familie die hohen Feiertage beging. Abends vertiefte er sich vielleicht in ein Buch und genoss dazu ein gutes Glas koscheren Weins. Schaute er hinaus aus den Fenstern der Vorderfront seines Hauses, sah er die Israelitische Volksschule – und freute sich mit Sicherheit darüber, denn Bildung war ein wichtiger Aspekt jüdischen Lebens. In die Innenstadt war es nicht weit, auch zur Synagoge gelangte man in wenigen Minuten.
Die Cahns waren Fuldaer, aus ganzem Herzen. 1933 aber begann der lange Prozess der Entrechtung und Ausgrenzung. Die Verluste der Shoah sind unfassbar groß, nicht nur, weil sechs Millionen Menschen ermordet wurden, sondern weil viele Überlebende für ihr ganzes Leben gezeichnet und traumatisiert blieben, bis in die folgenden Generationen hinein. Und weil die Auslöschung jüdischen Lebens auch das kulturelle Leben in Deutschland fast zum Stillstand brachte. Vieles ist unwiederbringlich verloren. Verluste, unter denen Deutschland bis heute leidet.
Ich sehe dieses Haus, und wünschte mir, ich hätte es in seiner großen Zeit erleben dürfen. Und bin gleichzeitig glücklich darüber, dass es als Hessisches Kulturdenkmal in der liebevollen Obhut der Familie Kropp-Arend an seine Vergangenheit erinnert und weiter genutzt wird. Besser kann man es nicht machen. (Jutta Hamberger) +++