Bad Hersfelder Festspiele
Auf der Bühne und doch hinter den Kulissen: "A Chorus Line" feiert Premiere
Das Musical "A chours line" begeistert mit ausdrucksstarken Tänzern und eindrucksvoller Choreografie
Fotos: Rene Kunze
24.06.2024 / BAD HERSFELD -
Mitten auf der Bühne, mitten in dem Leben der Darsteller, mitten in der "Chorus Line". Es ist eine Geschichte vom großen Druck im Theater im Konflikt mit der Liebe zum Tanz. Am Samstagabend feierte der Musicalklassiker seine Premiere auf der Bühne der Bad Hersfelder Festspiele und begeisterte das Publikum.
1975 wurde das Musical "A Chorus Line" von Marvin Hamlisch, Edward Kleban, James Kirkwood und Nicholas Danteund am Broadway in New York uraufgeführt. Bei den Bad Hersfelder Festspielen wird es seit Samstagabend erstmalig von einem deutschsprachigen Theater eigenständig auf der großen Bühne in Szene gesetzt. Melissa King inszenierte und choreografierte die Show.
Die Geschichte beginnt mitten im Casting: Hunderte bewerben sich auf eine Rolle in einer Show. Nur vier Tänzerinnen und vier Tänzer werden für die Chorus Line benötigt. Mit Videoleinwänden werden zu Beginn typische Casting-Szenen in schwarz-weiß eingespielt, die der Videokünstler Eric Dunlap mit Statisten aus Bad Hersfeld und Umgebung aufgezeichnet hat. Darin erscheinen auch Festspiel-Intendant Joern Hinkel als Pförtner und der Festspiel-Schauspieler Peter Englert als Casting-Agent. Der Gruppe der Bewerber, die in die erste Vorauswahl gekommen sind, steht ein erbarmungsloser Auswahlprozess bevor, bei dem es nicht nur reicht, gut zu performen.
Die Bühne ist ohne viel Schnickschnack lediglich mit großen Spiegeln und ein paar Stühlen ausgestattet. Das Musical startet mitten im Auswahlverfahren, bei dem am Ende nur acht Tänzer übrig bleiben werden. Der Kampf um die begehrten Rollen ist erbarmungslos, in die Vorauswahl schaffen es nur 18. "Ich brauche den Job", singt Tom (gespielt von Anton Schweizer), der es in die Vorrunde geschafft hat. Schweizer strahlt dabei einen Ehrgeiz aus, als würde er die Rolle tatsächlich benötigen und zieht das Publikum damit gleich zu Beginn in den Bann.
Von tänzerischer Leistung zur persönlichen Lebensgeschichte
Die tänzerische Leistung der 18 Bewerberinnen und Bewerber reicht dem Regisseur Zach (Arne Stephan) nicht: "Ich glaube, es hilft mir mehr, wenn ich etwas über euch weiß, etwas Persönliches." Zach agiert größtenteils von einem Regietisch, mitten im Publikum - ein Novum bei den Bad Hersfelder Festspielen. Die Tänzer beginnen zu erzählen. Anfangs noch zurückhaltend und schüchtern, später aufgeschlossen und redegewandt. Totgeschwiegene Themen wie Selbstzweifel, die Angst vor dem Versagen und das Zurechtkommen mit der eigenen Sexualität rücken in den Vordergrund. Plötzlich werden aus den anfänglich so in sich gekehrten Tänzern, Persönlichkeiten, mit denen sich das Publikum verbunden fühlt. Die schauspielerische Leistung der Darsteller reicht so weit, dass man zwischendrin vergessen könnte, dass es sich "nur" ein Musical handelt.
Da ist zum Beispiel der zu Beginn so selbstbewusste Bobby (Pascal Cremer): Nach einigen Sätzen über seine Vergangenheit bricht die Fassade. Der zuvor so von sich selbst überzeugte Tänzer erzählt von Leistungsdruck, Mobbing und schlussendlich sogar von eigenen Suizidversuchen. Cremer schafft es, die Geschichte so gut aufrechtzuerhalten, als hätte er diese Situationen selbst durchlebt. Eine schauspielerische Leistung, die beeindruckt und auch dem restlichen Cast so gut gelingt, als wären sie für diese Aufführung mit ihren Rollen verschmolzen.
Ein Rundum-Erlebnis für Augen und Ohren
Nach Bobbys Erfahrungsberichten ist das Eis gebrochen. Nun erzählen auch die anderen von ihrer Vergangenheit. Zach bohrt nach: Aus Fragen wie "Warum hast du mit dem Tanzen angefangen?" werden plötzlich Geschichten über die innersten Schattenseiten, größten Ängste und die eigene Sexualität. Im Kreis der 18 Darsteller entwickelt eine intime Atmosphäre, als würden sich die Künstler schon seit Jahren kennen. Es sind die Ängste und Zweifel, die inzwischen eine tiefe Verbundenheit darstellen, fast noch mehr als die Liebe zum Tanz.
Zusätzliche Spannung erzeugt Cassie (Emma Kate Nelson), die die frühere Geliebte von Zach ist und ebenfalls an dem Casting teilnimmt. Nelson schafft es, eine Spannung zu erzeugen, die das Publikum spüren lässt, dass zwischen den beiden nicht alles geklärt zu sein scheint. Die Beziehung der beiden wird auf weit mehr als nur der professionellen Ebene ausgetragen und diskutiert. Eine gewisse Diskrepanz der beiden liegt bis zum Ende in der Luft und lässt nur erahnen, mit welchen Gefühlen der Regisseur und die Tänzerin noch immer zu kämpfen haben.
Durch ihre sängerische Leistung sticht besonders Diana Morales (Myrthes Monteiro) mit ihren zwei sehr ausdrucksstarken Solos hervor. Paul (Kevin Reichmann) fällt mit seiner schauspielerischen Leistung und seiner anrührenden Geschichte als jugendliche "Drag-Queen" eindeutig auf. Auch seine Umsetzung einer erlittenen Sportverletzung bringt die Dramatik des Musicals auf einen Höhepunkt und stellt damit auf einmal die Zugangsängste und großen Träume des Castings in den Vordergrund.
Mit außergewöhnlicher Authentizität wird das Publikum in einen Bann gezogen
In dem Musical geben sich die Darsteller verletzlich, teilen Dinge, die sie vorher noch nie gesagt haben. Der Cast schafft hierbei eine Umsetzung mit einem Maß an Authentizität, als hätten sie all das selbst erlebt. Sie geben nicht nur unfassbar gefühl- und kraftvolle Tänze zum Ausdruck, sondern schaffen darüber hinaus eine Verbindung mit dem Publikum. Die darauf perfekt abgestimmte Musik unter der musikalischen Leitung von Christoph Wohlleben schafft ein Gesamtpaket, dass die bis auf den letzten Platz besetzte Stiftruine zweifellos begeisterte.
Die sehr schlicht gewählten Requisiten auf der Bühne führen außerdem dazu, dass die für den Hintergrund gecasteten Tänzer in den Mittelpunkt rücken. Im Laufe der Handlung bekommen die anfänglich nur zum Trainieren aufgestellten Spiegel eine symbolische Bedeutung: Den Künstlern wird wortwörtlich der Spiegel vorgehalten. Die teilweise gleichzeitigen Live-Nahaufnahmen der Künstler auf Leinwänden sind ebenfalls eine erstmalige Idee und Umsetzung auf den Festspielen. Die Bühne wurde von Karin Fritz gestaltet, für die besonders in der Schlussszene begeisternden Kostüme ist Conny Lüders zuständig.
Fazit
Das Musical mit den ausdrucksstarken Tänzen und der mitreißenden Musik lädt ein, sich auf eine Reise in das Leben der Darsteller zu begeben und von Anfang an mitzufiebern. Am Ende ist egal, wer die acht Glücklichen sind, die sich für die Show qualifizieren. Es zählt nur noch die Geschichte jedes einzelnen - aus Tänzern, die für den Hintergrund einer Show antraten, werden die eigentlichen Stars.
Die Inszenierung ist rundum gelungen und bietet alles, was es für ein gutes Musical braucht. Besonders diese gelungene Leistung, der Darsteller, wie sie Tanz und Gesang miteinander verbinden. Ein absolutes Muss für jeden Fan von Tanz, Musik und Spannung. Langer Beifall, Jubel und Pfiffe zeigen: das Premierenpublikum von "A Chorus Line" sah es ebenso. (Katharina Geppert) +++