Literatur im Stadtschloss
Marion Poschmann: Flüsternde Winde und rachsüchtige Frauen
Fotos: Martin Engel
05.06.2024 / FULDA -
Marion Poschmann wird oft als sprachmächtig beschrieben, als radikal moderne Autorin, die sich keiner Mode anpasse. Ihre Bücher sind gewiss nicht leicht zu lesen. Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld zitierte seinen literaturbegeisterten Mitarbeiter Klaus W. Orth, der gesagt hatte, "Chor der Erinnyen" sei ein Roman, den man am besten zweimal lese, denn es sei ein Buch zum Lesen und zum Studieren.
Geflügelte Frauen sind gefährlich
Poschmann ist keine laute Autorin, auch keine, die ständig in Talkshows auftritt. Sie ist leise, sie ist nachdenklich, und sie befasst sich immer wieder mit der Frage nach der Wahrnehmung oder, wenn Sie so wollen, mit der Frage, was wir wahrzunehmen glauben und was wirklich ist. In seiner Begrüßung erinnerte der Oberbürgermeister daran, dass Poschmann bereits 2014 in der Reihe "Literatur im Stadtschloss" gelesen habe, damals aus "Sonnenposition". Marion Poschmann hatte den Fürstensaal noch in bester Erinnerung und war von so viel barocker Pracht, doch erneut schier überwältigt, wie sie zu Beginn ihrer Lesung erzählte.Lebenslügen und weibliches Selbstbewusstsein
Marion Poschmann setzt ihre drei Frauen für ein Wochenende in eine Hütte im Wald, und bringt sie dann mit chirurgischer Präzision immer mehr aus der Balance. Denn alle drei leben mit mühsam aufrechterhaltenen Lebenslügen. Und dann kommt an diesemWochenende alles ganz anders als erwartet. Statt Natur und Ruhe entsteht ein wenig angenehmes Klassenfahrtgefühl, die Waldwanderung ist weder pittoresk noch erholsam, denn der Wald ist schwer hitzegeschädigt. Ja, auch der Klimawandel spukt durch diesen Roman. Und dann gabeln die drei Frauen zwei wandernde Männer auf – was das Gefüge erneut und drastisch verändert.
Marion Poschmann stellte ihren Roman als Eheroman vor, er sei aber auch eine Liebesgeschichte, ein Freundinnenroman und eine Mutter-Tochter-Geschichte. Das alles kommt vor, und so kann man das Buch durchaus als Entwurf unterschiedlicher Frauenbilder lesen – und zwar Frauenbilder, die Frauen selbst gestalten. Man kann "Chor der Erinnyen" allerdings auch als Fortsetzung oder Parallelgeschichte von Poschmanns "Die Kieferninseln" lesen – denn Mathilda und ihr Mann kommen auch in diesem Buch vor. Der Blick auf Mathilda ist in den "Kieferninseln" allerdings der ihres Mannes.
Hoher Stil oder einfach nur zu konstruiert?
Zwischen die Kapitel geschaltet sind neun Gedichte, sie begleiten und kommentieren das Geschehen, so wie es im antiken Drama Aufgabe des Chors ist. OB Wingenfeld hatte in seiner Begrüßung von der "Vielfalt" der Rezensionen zu diesem Buch gesprochen – die meisten seien sehr gut. Wer begeistert war, bewunderte an dem Roman den "hohen Stil" und grenzte das gegen die übliche Alltagsliteratur ab – wobei völlig unklar bleibt, was unter beiden Begriffen wirklich zu verstehen ist. Gut das eine, schlecht das andere? Das ist ein Wertungsschema, das ich mir nicht zueigen machen möchte. Es gibt Bücher, die zu einem passen, grundsätzlich oder in bestimmten Lebensphasen. Und es gibt Bücher, bei denen das nicht zutrifft. Es ist und bleibt hochindividuell. Wozu braucht man Votivkerzen?
Einen Moment gab es an diesem Abend, da verließ Marion Poschmann die verschlossene, enigmatische Welt ihres Romans und öffnete uns Lesern ein kleines Fenster. Sie hatte eigens ein Votivherz mitgebracht. Als sie dieses große, rote Herz hochhielt und – obwohl sie doch im erzkatholischen Fulda war – die Bedeutung von Votivherzen erklärte und erzählte, warum die in diesem Roman eine Rolle spielen, fesselte sie die Aufmerksamkeit von uns allen. Denn ihr Erzählen war ein Öffnen, ein Vermitteln, und so die Chance, diesem Roman näherzukommen. Davon hätte es gern mehr geben dürfen.Eine handwerkliche Anmerkung zum Schluss – die gilt aber für alle Lesungen: Mich erstaunt immer wieder, dass Autoren so wenig trainieren, richtig in ein Mikrofon zu sprechen und sich kaum je rückversichern, ob sie auch gut verstanden werden. Fürs Publikum kommt es rüder Unhöflichkeit gleich, mehr Lautstärke einzufordern. Wie einfach wäre die kleine Frage: "Können Sie mich alle gut hören?" Denn, liebe Autorinnen und Autoren, wir kommen, weil wir Ihnen zuhören und Sie verstehen wollen. Macht es uns doch bitte etwas leichter!
Marion Poschmann wurde mit viel Beifall verabschiedet, und dann tauschten sich Fuldas Literaturbegeisterte wie an jedem Leseabend bei Wein und Brez’n aus. (Jutta Hamberger) +++