Uwe Timm, Alle meine Geister
Erinnern ist merkwürdiges Vergessen - Literatur im Stadtschloss
Fotos: Jutta Hamberger
24.04.2024 / FULDA -
Was ist das für ein großes und altersweises Werk, und doch mit der Leichtigkeit eines Mannes geschrieben, der mit fast heiterer Gelassenheit auf sein Leben zurückblickt. Uwe Timms "All meine Geister" gleicht einer Unterhaltung mit sich selbst, es ist ein meisterliches und äußerst vergnüglich zu lesendes Buch.
"Es ist eine Lust, nach Fulda zu kommen!"
Auch an diesem Leseabend vertrat Kulturamtsleiter Dr. Thomas Heiler Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld, der verhindert war. Wieder war der Fürstensaal bis fast auf den letzten Platz besetzt. In "All meine Geister" wie überhaupt in seinem Werk schriebe Timm über die Geschichte der jungen Bundesrepublik, so Dr. Heiler, und dabei entstünde ein ganz anderes Bild der Bonner Republik als das gemütliche und leicht behäbige, das wir heute meist vor Augen hätten. Die Zeit sei vom Krieg geprägt gewesen – vom Erleben und Überleben, von den Kriegsschäden, den Kriegserlebnissen und natürlich auch von einer genau darüber schweigenden Elterngeneration."Kraftstöße"
Für seine Lesung war der heutige Welttag des Buchs genau das richtige Datum. Uwe Timm braucht keine nervig-belehrenden Sinnsprüche über die Tugenden des Lesens. Er macht in unaufgeregter und überzeugender Weise mit Person und Werk klar, welch ansteckende, anstiftende und befreiende Kraft im Lesen (und im Schreiben) liegt. "Kraftstöße" nannte Timm das an diesem Abend. Er machte auch deutlich, wie bedeutsam es ist, Literaturvermittlern zu begegnen – Freunden, Kollegen, Lehrern. Denn ein Buch gewinnt an Bedeutung durch die Menschen, die es in das eigene Leben bringen.Handwerk und Literatur
Welche Genauigkeit im Beruf des Kürschners gebraucht wird, wie viele unterschiedliche Tätigkeiten und Fähigkeiten es braucht, damit aus Fellen Pelzmäntel werden, zeichnet Uwe Timm mit großer Präzision und noch viel mehr Zuneigung nach. Seine Hochachtung des Handwerks ist ansteckend. Heute ist dieser Beruf so gut wie ausgestorben. Die Quälerei der Pelztiere in sog. Zuchtfarmen und die damit einhergehende Massenfellproduktion war für Timm der Grund, mit dem Gewerbe aufzuhören. Das aber ändert nichts an seiner Wertschätzung für die Meister und Meisterinnen dieses Fachs, von denen er gelernt hat. Beim Lesen lernen wir viel über die Kunst der Kürschnerei, die im Florenz des 13. Jahrhunderts zu den sieben großen Gilden und Zünften gehörte, eben weil sie so viel Kunstfertigkeit erforderte.Tiefen Eindruck hinterlassen aber auch Eugen Kogons "Der SS-Staat", das lyrische Werk von Benn und Rilke ebenso wie Dostojewski und die russische Literatur, Brehms Tierleben und Humboldts Naturbeschreibungen, Amundsens und Shackletons Expeditionen zum Nordpol und durch die Antarktis, Goethes Wilhelm Meister, Kafka und Henry Miller.
Die Geister, die ich rief
Sie sehen an diesen Beispielen: Die Bücher, die Timm liest, sind verwoben mit den Menschen, die sie ihm geben. Er hat nie einen ‚Kanon‘ abgearbeitet, er hat sich nie von Verbotsschildern leiten lassen. Er hat sich – wie er selbst erzählt – immer verführen lassen von Worten und Geschichten. So ist sein autobiographisches Erinnerungsbuch die Geschichte von einem, der über sich hinauswuchs und sein Leben samt allen Erinnerungen bewahren will. Fast schwerelos gleitet der Autor durch sein eigenes Leben, erinnert sich an Menschen, Bücher, Gespräche und Begegnungen. Das entfaltet eine Magie, der man sich weder entziehen kann noch will. Fast verlegen wehrt Uwe Timm am Ende den tosenden Beifall ab, den ihm Fuldas Lesebegeisterte spenden – die sich gewiss wünschen, Uwe Timm möge auch noch ein drittes Mal nach Fulda kommen. (Jutta Hamberger) +++