J. S. Bach, Johannespassion

Winfridia-Konzert in der Christuskirche: Zerfließe, mein Herze

Am Palmsonntag erklang Bachs großartige Johannes-Passion in der vollbesetzten Christuskirche – ein Erlebnis für Aktive und Zuhörer
Alle Fotos: Martin Engel

25.03.2024 / FULDA - Man sah es allen in der bis auf den letzten Platz gefüllten Christuskirche an – nur zu gern hätten sie die Leistung von Chor, Orchester, Solisten und Dirigent frenetisch bejubelt. Das aber geschah auf ausdrückliche Bitte der Musiker nicht. Bachs Intensität sollte weiter in uns allen wirken. So gab es eine stille und sehr verdiente Standing Ovation für diese Johannespassion.


Ein Oratorium voller Dramatik

Ja, sie ist intensiv, diese Musik, in der Dinge zur Sprache kommen, die bis dahin niemand mit Tönen gewagt, vermocht oder versucht hat – so jedenfalls hat sich der Komponist Hans Werner Henze über Johann Sebastian Bachs "Johannespassion" BWV 245 geäußert. 1724 wurde sie in der Leipziger Nikolai-Kirche uraufgeführt.

Aus heutiger Sicht ist es fast lachhaft, aber Bach war für die Leipziger Ratsherren nicht die erste Wahl. Ein Ratsherr dazu: "Da man keinen von den Besten bekommen kann, so bleibt nichts anderes übrig, als sich an einen Mittleren zu wenden", genüsslich erzählt das Programmheft diese Geschichte. Bach war damals erst wenige Jahre als Thomaskantor in Leipzig tätig, und vermutlich hat ihn die abschätzige Meinung der Ratsherren angestachelt, nicht nur ein gutes, sondern ein überragendes Werk abzuliefern. Die Johannespassion ist Dramatik pur, monumental, oft bildhaft, und schlicht überwältigend. Die Handlung wird aus verschiedenen Perspektiven vorgetragen: der erzählende Evangelist (Rezitative), das ‚Volk‘ und seine Reaktion auf das Geschehen (die Turbae-Sätze), Einzelpersonen, die das Geschehen reflektieren (Arien), die andächtig lauschende Gemeinde (Choräle und Kirchenlieder) und die mahnende übergeordnete Instanz (Eingangs- und Schlusschor).

Die Johannespassion entstand in einer Zeit, in der Religiosität und Glaube ganz anders gelebt wurden als heute. Und doch berührt uns Bachs Musik im Innersten, denn sie ist im besten Sinne zeitlos. Bachs Musik – wie außer ihm nur die Mozarts – ermöglicht Neulingen genauso wie Kennern den Zugang. Man kann sie schwelgerisch genießen, und man kann sich in ihren Untiefen verlieren.

War Bach Antisemit?

Uns heutigen fällt der zeittypisch polemisch vorgetragene Hass auf die Juden in den Turbae-Chören auf – sie sind schuld, sie haben Jesus ans Kreuz gebracht. Aber Achtung: Das ist kein Beleg für eine antijüdische Haltung Bachs – es findet sich auch sonst keiner. In diesen Wut-Chören geht es hochgradig emotional, hasserfüllt und dissonant zu. Basis der Passion ist die Luther-Übersetzung der Bibel. Dass Luther Juden hasste, kann man seiner Hetzschrift "Wider die Juden und ihre Lügen" von 1543 entnehmen, in der er ihre Vertreibung und die Zerstörung der Synagogen fordert. Worte, die knapp 400 Jahre später auf entsetzlich fruchtbaren Boden fielen. So erklärt sich, dass die Nationalsozialisten die beiden Passionen Bachs als "Entjudungs"-Hymnen geradezu verklärten.

Die Kirchen haben sich längst von Luthers Antijudaismus distanziert. Und doch kann man nicht abstreiten, dass Bachs Passionen das "Unaufgeklärte Luthertum" transportieren (so Jörg Hansen, Leiter des Eisenacher Bach-Hauses). Genauso aber kann man auch den Standpunkt vertreten, dass sich der Fokus weg von den Juden und hin zu den Sünden der Christen verschiebt – so sieht es der Musikwissenschaftler Michael Marissen. Letztlich geht es um Erlösung – und die gilt für alle Menschen. Und last but not least: Die Bach-Renaissance ging von einem Bach-begeisterten Juden aus – Felix Mendelssohn-Bartholdy, der sich an keinem einzigen Turba-Chor störte.

Man kann nicht ignorieren, welche fatale Wirkungsmacht Luthers Texte entfalteten – erst recht mit der noch viel wirkmächtigeren Musik Bachs. Es hat einige Versuche gegeben, den Passions-Text zu ‚entschärfen‘. Das entspricht unserer heutigen Haltung, alles, was widersprüchlich ist, glatt zu schmirgeln. Ich halte das für eine falsche und verlogene Art von Empfindsamkeit. Es ist viel lehrreicher, sich mit dem Schmerz auseinanderzusetzen und die Hintergründe zu kennen. Manche Zumutung muss man einfach aushalten.

Musikalischer Hochgenuss

Es war nicht die erste Aufführung der "Johannespassion" durch die Winfridia, allerdings war es die erste mit einem historisch orientierten Orchester. Das Würzburger Barockorchester "La strada armónica" wollte dabei keinen wie auch immer gearteten Originalklang reproduzieren, sondern uns die musikalisch-künstlerischen Gestaltungsmittel der Bach‘schen Zeit näherbringen. Das gelang auf ganz großartige Weise.

Noch ein First gab es an diesem Abend: Der Pilatus (Christoph Bier) war leider erkrankt, und nicht einmal das ausgedehnte Pilatus-Netzwerk von Dirigent Carsten Rupp konnte Ersatz beischaffen. In der Karwoche ist Pilatus nun mal eine stark gefragte Partie! Carsten Rupp entschied sich für die naheliegendste Lösung – und sang den Pilatus selbst. Da kann man nur sagen: Hut ab!

Der Chor in der Johannespassion muss viele und sehr verschiedenartige Aufgaben bewältigen: Er ist mahnende Instanz, frommes Volk und hasserfüllte, wütende Menge. Die Winfridia entfaltete ihre Stärken v.a. in den Chören und Chorälen, die sie mit Macht und Innigkeit interpretierte. In den Turbae-Chören fehlte mir ein wenig die Dramatik und Wucht. Denn das ‚Volk‘, das uns hier begegnet, erschreckt und verstört in seiner Haltung zutiefst. Wir kennen es auch heute nur zu gut (Stichwort MAGA-Anhänger in den USA oder Impfgegner bei uns). Wenn Fakten nichts zählen und nur noch das Vorurteil regiert, gilt nur noch die eigene Sicht, dann sind alle anderen Feinde, die es zu bekämpfen gilt.

Die Solisten des Abends waren Antonia Bourvé (Sopran) und Felix Uehlein (Altus), Andreas Post als Evangelist (Tenor) und Hinrich Horn als Jesus (Bariton). Bei Post faszinierte mich seine großartige Intonation und klare Artikulation, es verwundert nicht, dass er ein exzellenter Kunstlied-Interpret ist. Und Horn interpretierte die Jesus-Partie mit großem Ausdruck, viel Innigkeit und Würde. Sopran und Altus singen nur wenige Stücke, darunter aber zwei, die zutiefst bewegen: "Es ist vollbracht" (Altus) und "Zerfließe, mein Herze" (Sopran). Beide Arien fangen die Trauer und das Entsetzen über das Geschehen ein, nachdem zuvor schon die gesamte Schöpfung mit Erschütterung reagiert hat.

Man kann sich sicher sein, dass Bachs Musik an diesem Abend in allen weiterschwang – was für ein wunderbarer Beginn der Karwoche! (Jutta Hamberger) +++

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