Durs Grünbein, Der Komet

Literatur im Stadtschloss: Katzengold statt Goldener Zeiten

Durs Grünbein las aus seinem vielschichtigen Buch „Der Komet“ – aus einer Zeit, in der das NS-Regime alle im Blitzkriegmodus abstumpfte.
Fotos: Martin Engel

21.03.2024 / FULDA - Der Fürstensaal verwandelt sich für drei Monate in einen ‚Lesesaal‘ für alle Fuldaer Literatur- und Lesebegeisterten. In der diesjährigen Auflage der Reihe "Literatur im Stadtschloss" kommen namhafte Autorinnen und Autoren, manche nicht das erste Mal. Das gilt auch für den Gast des heutigen Abends – Durs Grünbein, der aus "Der Komet" las.

Ein weitgespannter Bogen

In vier Titeln der diesjährigen Reihe spielt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle, in zwei Titeln geht es um Frauenbilder – selbstgewählte und zugeschriebene. Wir lesen vom Leben einer einfachen Frau in Dresden und der Zerstörung der Stadt 1945. Wir tauchen ein in Leben und Werk des Maler-Genies Caspar David Friedrich. Wir verfolgen das Schicksal einer jüdischen Lübecker Familie und ihrer Dienstboten um die Jahrhundertwende. Wir werden zu Kürschner-Lehrlingen und tauchen ein in die Welt der Literatur. Wir lesen von einer jungen Bildhauerin in der New Yorker Kunstszene. Wir lesen von drei Frauen, die zwar irgendwie befreundet sind, sich aber nicht mögen und deren Leben aus dem Gleichgewicht gerät. Im Buch des diesjährigen Preisträgers schließlich geht es um Liebeskummer und das widerborstige Leben auf dem bayerischen Land, beides soll durch eine Reise nach Nordkorea erträglicher werden.

Eine besondere Reihe

Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld begrüßte den Autor, der bereits zum zweiten Mal eine Reihe "Literatur im Stadtschloss" eröffnet. Besonders dankte er den Sponsoren Sparkasse und Parzellers Buchverlag, die seit Anbeginn ermöglichen, dass alle Lesungen kostenlos angeboten werden können und es danach zu guten Gesprächen sogar noch Wein und Brez’n gibt. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Unter den Ehrengästen waren die beiden Oberbürgermeister a.D. Dr. Wolfgang Hamberger – der Erfinder der Reihe – und Gerhard Möller, die Stadtverordnetenvorsitzende Margarete Hartmann sowie die beiden Ehrenringträger der Stadt Fulda, Rainer Görg und Helmut Sorg mit seiner Frau Traudl.


Dann aber gehörte die Bühne Durs Grünbein. Es kommt nicht so oft vor, dass ein Dichter sich mit einem Gedicht über sich selbst vorstellt – Durs Grünbein tat es, mit seinem Gedicht "1962", seinem Geburtsjahr und überdies einem Jahr, in dem, wie er sagte, vieles zum ersten Mal geschehen sei. "Ich setze bei jeder Lesung neu an", gestand er, "es gibt da keine Routine". Ganz gewiss aber gibt es eine innere Logik, der er beim Aussuchen der zu lesenden Passagen folgt. Sie bilden das Panorama dieses Buchs mit all seinen Protagonisten: Der Hauptfigur Dora, ihrer besten Freundin Trude, der Schlachthof-Gang um Oskar, Doras späteren Mann, der Stadt Dresden in all ihrer barocken Schönheit, dem NS-Sumpf, der Generationen-Perspektive zwischen dem Autor und seiner Großmutter, die er so gern noch so viel gefragt hätte, und natürlich auch mit dem titelgebenden Halley’schen Kometen, der symbolisch für die Bedrohungen steht, die von oben kommen.

Die Geschichte einer einfachen Frau

Haben wir nicht längst genug Geschichten aus der Zeit des Dritten Reichs gelesen? Kennen wir nicht alle Aspekte? Braucht es wirklich noch ein Buch? Im Falle Durs Grünbeins kann man das mit einem lauten Ja beantworten. "Der Komet" ist sehr lesenswert – ein Roman, eine Biographie, eine Zeitgeschichte, ein Erinnerungsbuch, ein Bericht – das Buch entzieht sich jeder genretypischen Festlegung. Die Hauptfigur ist Dora Wachtel, die Großmutter des Autors. Sie kommt aus einfachsten, kleinbürgerlichen Verhältnissen in Schlesien und bricht 1936 mit gerade mal 16 Jahren nach Dresden auf – der Grund ist Oskar, ihr fescher Verehrer und bald Ehemann.

Oskar arbeitet in einer Schlachterei, Dora sucht sich eine Anstellung – auch für ein bescheidenes Leben muss man hart arbeiten. Für Dora ist Dresden die Welt. Sie erobert sich die Stadt in all ihren Facetten, kommt Besuch, ist sie eine kundige Stadtführerin. Das gibt dem Autor Gelegenheit für ausufernde Beschreibungen seiner Heimatstadt, und das ist ein bisschen zuviel des Guten. Denn es geht ja gar nicht um diese einzelne Stadt, sondern darum, wie sich jeder einzelne Deutsche und die gesamte Gesellschaft mehr und mehr unter die Knute des NS-Regimes begeben. Das Leben wird immer gleichgeschalteter, auch wenn man zutiefst unpolitisch ist.

Oskar wird nach Kriegsbeginn bald eingezogen und Dora muss sehen, wie sie zurechtkommt. Noch ist das Kriegsgeschehen weit weg, der Dresdner Alltag weitgehend unbehelligt. Das ändert sich allmählich und kulminiert in der Bombennacht des 13. Februar 1945. Wie viele jener Generation erzählt Dora erst sehr spät von ihren Erlebnissen während dieser Zeit. Die Gespräche zwischen ihr und ihrem Enkel sind der Auslöser für dieses Buch: "Es gibt ein paar Dinge, die sie mir erzählt hat, die unvergesslich sind."

Dresdner Edelfäule

Die Zerstörung Dresdens ist der grausame Kulminationspunkt. Durs Grünbein schildert das betont sachlich und fast distanziert. Es tut gut, dass hier kein Mythos wabert. Denn viele deutsche Städte wurden weitaus schlimmer zerstört, von den durch Deutschen verursachten Zerstörungen im Ausland mal ganz zu schweigen (Stichwort Warschau). Ein regelrechter Kult aber hat sich nur um den "Untergang" Dresdens entwickelt, und wird dort bis heute mit Hingabe gepflegt.

Durs Grünbein teilt diese Haltung nicht, im Gegenteil, er spricht von der "Edelfäule der Stadt". Sie können sich selbst ein Bild machen: In Berlin steht die zerstörte Gedächtniskirche als Mahnmal – in Dresden wurde mit Pomp, Gloria und internationalen Spenden die Frauenkirche als barocke Kulisse wieder aufgebaut.

Vom Abgleiten in die Mitwisserschaft

Die für mich stärksten Szenen des Buchs verdeutlichen, wie fast automatisch sich die Gesellschaft in der NS-Diktatur an Monstrositäten, Brutalität und Verfolgung gewöhnt. Man stumpft einfach ab. Grünbein beschreibt es so: "Als wären sie alle paralysiert worden vom Tempo der Ereignisse. Als hätten sie ihr Leben in diesen zwölf Jahren in einem irrsinnigen Zeitraffer gelebt, im Blitzkriegmodus, überrumpelt von einer Dynamik, die alle und alles erfasste. Gestern noch Frieden und morgen schon Krieg."

Das gilt auch für Menschen, die das Regime nicht unterstützen. Die nette alte Dame im Haus ist irgendwann weg, ihre Wohnung zerstört? Der Kinderarzt praktiziert nicht mehr? Die Synagoge brennt? Der junge Wachmann berichtet von seiner Arbeit in Treblinka? Man weiß es besser, als nachzufragen, was geschehen ist. Man nimmt es hin, auch wenn man es nicht gut findet. Der Leitspruch der Großmutter lautet, "wir sind immer die Dummen gewesen" – eine Stilisierung als Opfer, das dem Geschehen nichts entgegenzusetzen hatte. Beim Lesen lösen diese Szenen Atemnot und Beklemmung aus. Sie erklären aber besser als mancher wissenschaftliche Text, wie und warum – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Deutschen zum Volk der Täter, Mitwisser und Mitläufer wurden und warum sie davon nach 1945 lieber nichts wissen wollten. "Schlussstrich-Fans" gab es schon damals.

Parallelen zu den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts sind vom Autor durchaus intendiert. Auch heute überfordern uns die gehäuften Krisen und Kriege. Und wie damals scheint es manchem die einfachste Lösung zu sein, den Kopf in den Sand zu stecken, falschen Propheten hinterherzulaufen oder lauthals herumzupöbeln. Haltung und Empathie waren schon immer die schwierigere Wahl.

Mit großem Beifall dankte das Publikum Durs Grünbein – für den der festliche und fast vollbesetzte Fürstensaal sicher auch 2024 ein besonderes Erlebnis war. (Jutta Hamberger) +++

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