Ziel: eine gerechte Erinnerungskultur

Charlotte Wiedemann las in Heubach aus "Das Leid der Anderen begreifen"

Charlotte Wiedemann las in Heubach
Fotos: Förderverein

26.01.2024 / KALBACH - Es war ein Abend, der von Heubach um die ganze Welt führte. Auf Einladung des Fördervereins der Landsynagoge beleuchtete die Autorin Charlotte Wiedemann in der sehr gut besuchten früheren Heubacher Synagoge die Frage, wie Menschen mit dem Schmerz der Anderen umgehen. Die erste Station war Riga, die Hauptstadt Lettlands.



Denn dorthin, so dokumentiert es das Gedenkbuch der ehemaligen Synagoge, war im Dezember 1941 Jettchen Rosenzweig von Fulda aus deportiert worden. Die damals 59-Jährige gehört zu den 39 aus Heubach stammenden Jüdinnen und Juden, die in der Shoa umgebracht wurden. Der Bahnhof, an dem sie und Hunderttausende andere Deportierte in Riga ankam, ist heute ein Ort des Gedenkens - und ein Ort, an dem nichts an den Massenmord an den Juden erinnert. Denn das Erinnern in Riga gilt "nur" den Abertausenden Letten, die in der Zeit des stalinistischen Terrors von dort nach Sibirien verschleppt wurden.

"Das Beispiel zeigt, wie die gefühlte Nähe zu einer Opfer-Gruppe dazu führen kann, dass das Leid der Anderen ausgeblendet und nicht wirklich wahrgenommen wird" so Wiedemann. Das zeigte auch der Blick auf die einen anderen, weit entfernen Ort auf unserer Erde: Im damals von den Niederlanden beherrschten Dorf Rawagede auf Java ermordeten Polizeikräfte Hunderte Männer vor den Augen von deren Angehörigen bei einer "Strafaktion". Und es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis, aufgrund der Klage einiger hochbetagter Witwen aus dem Dorf, der niederländische Botschafter nach Rawagede kam, um vor der Dorfgemeinschaft eine Entschuldigung für die Gräueltat formulierte, die er beschönigend "eine Tragödie" nannte.

Wiedemann erinnerte daran, dass die Verbrechen der Kolonialmächte, sei es im heutigen Malaysia, in Indonesien, in den nach Unabhängigkeit strebenden Staaten des Schwarzen Afrikas oder am Rand des Mittelmeers, sich ereigneten, während in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Verantwortliche des Nazi-Regimes verhandelt wurde. Das mache deutlich, dass man die "Untertanen" in den Kolonien ohne jegliche Begründung von der 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit Pathos beschlossenen universalen Geltung dieses Anspruchs ausgeschlossen habe. Wiedemann hob hervor, dass es in keiner Weise darum gehe, dieses Leid zu instrumentalisieren, um die Verbrechen des Holocausts zu relativieren. Aber das Wahrnehmen dieser Erfahrungen helfe zu verstehen, warum die für uns so selbstverständliche Sicht, in der das Erinnern an die NS-Verbrechen und die Judenvernichtung alles andere überlagert, andernorts eben nicht geteilt werde.

Ausführlich ging Wiedemann auch auf die Situation in Israel und Palästina ein und berichtete von jüdischen Israelis, die die Folge der Landbesetzung im Zuge der Staatsgründung kritisch werten. Wer so denke, sei im aktuellen Israel ein "Dissident". Doch auch in Deutschland gelte es, nicht nur jüdische und pro-israelische Stimmen hören, sondern auch der rund 200.000 Menschen umfassenden palästinensischen Community Gelegenheit zu geben, ihre Haltung zu formulieren. Denn nur eine Minderheit davon gehöre zu jenen lauter, nach dem Überfall vom 7. Oktober durch zum Teil furchtbare Aufrufe und Aktionen bekannt gewordenen extremistischen Gruppe, die die Existenz Israels in Frage stellten.

Ein Hoffnung machender Exkurs führte in die Vergangenheit: Wiedemann erinnerte daran, dass es seit der Vertreibung der Juden aus Spanien am Ende des 15. Jahrhunderts über Jahrhunderte hinweg ein gutes Miteinander zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung gegeben habe. Ein Beleg dafür seien die zahllosen bedeutenden wissenschaftlichen und theologischen Werke, die von jüdischen Gelehrten in judäo-arabischer Sprache, einer in hebräischer Schrift geschriebenen Form des Arabischen, verfasst worden seien. Noch stärkere Zeugnisse des Miteinanders, so Charlotte Wiedemann, seien aber Berichte darüber, dass wechselweise jüdische und arabische Frauen Kinder der jeweils anderen Gruppe als Ammen mit gestillt hätten. Man müsse sich bewusst sein, dass Aggression und Spannung zwischen Juden und Arabern kein "Naturgesetz" seien.

In der Diskussion ging es unter anderem um die Frage, wie eine "gerechte Erinnerungskultur" gestaltet werden könne. Gefragt nach ihrer Haltung zur Migrationspolitik in Deutschland und Europa warb Wiedemann vehement für die Wahrung des individuellen Asylrechts. Dieses sei von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes sehr bewusst als Reaktion auf die Erfahrungen der Nazi-Zeit geschaffen worden. Es sei bedenklich, dass es immer mehr geschwächt und leider nicht nur von der AfD, sondern beispielsweise auch durch den Entwurf für das neue CDU-Parteiprogramm infrage gestellt werde. Auch die Ampel-Regierung mache da keine gute Figur.

Am Büchertisch, den die Buchhandlung Uptmoor organisiert hatte, signierte Wiedemann für die Interessierten ihr Buch "Den Schmerz der Anderen begreifen".

Im Namen des Fördervereins dankte dessen Vorsitzender Hartmut Zimmermann der Referentin für ihre "Freude am Differenzieren". Wiedemanns auf fundiertem Wissen fußende Impulse zum Nachdenken seien gerade in Zeiten, in denen das platte Vereinfachen hoch im Kurs stehe, wichtig. Für solche Bemühungen sei Heubachs einstige Synagoge ein geeigneter Ort. (pm)+++



Rechts Hartmut Zimmermann, Förderverein Landsynagoge Heubach

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