Konzert und Lesung im Marmorsaal

"Auschwitz lebt und atmet noch heute in mir"

Ein berührender Abend anlässlich der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz – gestaltet von Jana Tegel, Marliese Heiligenthal, Wolfgang Hengstler und Suska Kliebisch
Fotos: Aboutalib Ahmaad

22.01.2024 / FULDA - Am 27. Januar jährt sich der Tag, an dem das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde, zum 79. Mal. An die Befreiung erinnerte der von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit organisierte Abend, in dem es um Geschichten und Lieder der Überlebenden ging. Im gut besuchten Marmorsaal trug Suska Kliebisch jiddische und hebräische Lieder vor.



Gerade die jiddischen Lieder spiegeln die Alltagswelt vieler Juden wider. Entgegen der faschistischen Setzung waren die meisten nämlich keineswegs reich, sondern arm. Und so hören wir Lieder von Näherinnen, die bedauern, dass sie nichts anderes geworden sind und die über blutig gestochene Finger klagen. Wir sehen die Mütter vor uns, die ihre Kinder in den Schlaf singen und dabei manchen Wunsch mit einflechten, der wohl nie wahr werden wird. Ein Junge verkauft Streichhölzer und Papirossi, und die Nacht ist bitterkalt. Wir hören das fröhliche Tanz- und Versöhnungslied "Lomir sich iberbetn, wos schtejst du baj der tir", und das Lied eines überglücklichen Vaters, dessen Tochter gerade geheiratet hat.

Wir sind an einem Freitagabend – Schabbat – dabei, wenn die Familie miteinander betet, singt und Märchen erzählt werden. Vielen dürfte weniger bekannt gewesen sein, dass es auch jiddische Gewerkschaftslieder gibt wie das von Mottel, dem Vorarbeiter. "Donna, Donna" kennen die meisten in der Version von Donovan, obwohl es ein jüdisches Volkslied ist. Das Lied "Letzter Weg" des Litauers Hirsch Glik gehört zu den bekanntesten jiddischen Partisanenhymnen gegen den Terror der Nationalsozialisten. Glik fiel als 22-Jähriger im Kampf gegen deutsche Truppen.

Stimmen der Überlebenden

Die Lesetexte trugen Marliese Heiligenthal, Jana Tegel und Wolfgang Hengstler vor, die Stimmen der Überlebenden erzählen von ihrem Leid, das die Vernichtungslager überdauerte. Der erste Text war Nelly Sachs‘ beklemmendem Gedicht "Dein Leib im Rauch durch die Luft". Es folgte "Der Schmetterling", ein Gedicht des erst 17-jährigen Pavel Friedman. Er schrieb es in Theresienstadt, wo es nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Versteck gefunden wurde. Friedman wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Paul Celans "Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unseren Staub" greift die Schöpfungsgeschichte auf, nur dass hier nicht Gott, sondern ‚niemand‘ am Werk ist.

Bewegend der Bericht der französischen Journalistin Francine Christophe über ein Stück Schokolade, das ihre Mutter bei der Deportation für ihre Tochter mitgenommen hatte, um es ihr an einem Tag zu geben, an dem sie besonders unglücklich sei, rührte alle an. Denn nicht Francine bekam die Schokolade, sondern die hochschwangere Helene. Die gebar ein kleines, kränkliches Kind. Jahre nach Bergen-Belsen kommt dieses Kind als nun erwachsene Frau auf einer von Francine Christophe organisierten Tagung "Wenn die Überlebenden der Konzentrationslager 1945 eine therapeutische Beratung gehabt hätten – was wäre dann geschehen?" auf sie zu, gibt ihr ein Stück Schokolade und sagt: "Ich bin das Baby." Genauso anrührend die chassidische Geschichte "Der Lehrling des Mosaikkünstlers" von Yaffa Eliach, in der erzählt wird, wie ein Rabbi mit einer Notlüge einem Jungen auf der Rampe von Auschwitz das Leben rettet. "Auschwitz lebt", das Gedicht von Ceija Stojka, einer österreichischen Romni, macht einfach nur sprachlos – hier ein Ausschnitt daraus:

Auschwitz lebt
und atmet
noch heute in mir

ich spüre noch heute
das Leid
Jeder Grashalm jede Blume dort
ist die Seele eines Toten

Ich habe gesehen
alles ist wieder da
alles ist wieder nah

Überall spürt man
dass die Seelen
mit einem mitgehen

Mit Leonard Cohens "Halleujah", bei dem alle mitsangen, klang der stimmungsvolle Abend aus. (pm)+++

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