Schwellen überwinden
Arbeitsmarkt gefordert: Mit dem Berufswegekonzept raus aus der Sackgasse
Foto: Antonius/Marzena Seidel
17.01.2024 / FULDA -
Die Arbeitswelt in Deutschland ist nicht inklusiv. Die Situation ist auch 14 Jahre, nachdem Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt hat, ernüchternd. Antonius und das Unternehmernetzwerk Perspektiva gehen zusammen mit Kooperationspartnern wie der Agentur für Arbeit alternative Wege – mit Erfolg.
Behindertenwerkstätte überwiegend gescheitert
Mit Blick auf ganz Deutschland führt der am häufigsten gewählte Weg von der Förderschule nahtlos in eine Werkstatt. Dort sollte er allerdings nicht enden, weil dies allzu oft eine Sackgasse für die jungen Menschen bedeutet. Die Quote für die Vermittlung aus der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt liegt auf Bundesebene aktuell bei 0,35 Prozent. Die Beauftragten des Bundes und der Länder für Menschen mit Behinderung haben in ihrer Erfurter Erklärung vom 4. November 2022 deshalb auch ernüchtert festgestellt: "Der Auftrag der Werkstätten, den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern, (…) wird überwiegend als gescheitert angesehen."Individuelle Berufswegeplanung ausgerichtet an Interesse und Potenzial
- Arbeiten im Partnerbetrieb
- betriebliche Qualifizierung
- Budget für Ausbildung/Budget für Arbeit
- theoriereduzierte Ausbildung oder Vollausbildung
- oder ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis.
Das Unternehmernetzwerk Perspektiva hat seit 2018 – also in den vergangenen fünf Jahren – 220 Jugendliche erfolgreich weitervermittelt, davon 39 in eine unbefristete sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle und 77 in Ausbildung. Weitere 22 Jugendliche haben ihren Hauptschulabschluss erworben. Ein Schulabschluss zählt nach wie vor zu den wichtigsten Voraussetzungen, um auf dem Arbeitsmarkt überhaupt Fuß fassen zu können.
Ziel all dieser Bemühungen ist es, zusammen mit den Jugendlichen eine Lebensperspektive zu entwickeln, sie selbständiger zu machen, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Aber auch die Gesellschaft profitiert davon, wenn mehr und mehr Jugendliche später auf eigenen Füßen stehen. Denn in solchen Fällen werden Kosten für den Werkstattaufenthalt gespart und stattdessen sogar Steuern und Sozialversicherungsbeiträge entrichtet – eine Win-Win-Situation für die jungen Menschen und die Gesellschaft insgesamt.
Das lässt sich anhand eines Fallbeispiels illustrieren. Marlene S., 29 Jahre alt, hat das Down-Syndrom. Nach zehn Jahren in der Förderschule wechselte sie in die Arbeitsschule Startbahn. Hier lernte sie ihre Talente und Stärken kennen. Mit Unterstützung durch Startbahn und Perspektiva erwarb sie Teilqualifikationen in der Holzverarbeitung und arbeitet mittlerweile als Holzlackiererin in einer Schreinerei. Sie lebt selbständig in einer Wohnung in Fulda, fährt mit dem Stadtbus an die Arbeit und möchte den Führerschein erwerben.
Für die junge Frau ergeben sich drei Möglichkeiten:
1. Ein Partnerbetrieb von Perspektiva übernimmt sie in einer dauerhafte Beschäftigung, sie behält aber den Status als Werkstattbeschäftigte. Der Kostenträger spart in diesem Fall gegenüber der Werkstattlösung jährlich 10.000 Euro.2. Sie wird über das Programm "Budget für Arbeit" in einem Betrieb als reguläre Arbeitskraft eingestellt. Damit kann sie auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln oder zurück in die Werkstatt gehen. Die junge Frau erhält eine Begleitung am Arbeitsplatz, der Arbeitgeber einen Lohnkostenzuschuss. Trotzdem ist der Aufwand dafür rund 4500 Euro geringer als die Werkstattlösung. Außerdem zahlt die Frau Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.
Über das "Budget für Ausbildung" absolviert die Frau eine anerkannte Ausbildung in der Schreinerei. Sofern erforderlich erhält sie von Perspektiva eine Assistenz. Nach der Lehre wird sie als Fachkraft beschäftigt. Das spart jährlich Kosten in Höhe von 19.400 Euro für die Werkstatt. Außerdem verdient sie ihren Lebensunterhalt selbst, erfährt dadurch eine Selbstbestätigung und zahlt außerdem noch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. (pm) +++
Foto: Antonius/Marzena Seidel
Foto: Antonius/ Maximilian Fischer