Heftige Schieflage der Gemeindefinanzen

Über Jahre keine genehmigten Haushalte: Kommune darf nicht investieren

Bürgermeister Axel Schmidt und die neue Kämmerin Tanja Brand stellten die Finanzsituation vor
Fotos: Moritz Rös

17.11.2023 / KIRCHHEIM - Es läuft nicht rund in der Gemeinde Kirchheim. Vor allem im Bereich der Gemeindefinanzen liegt vieles im Argen. Aus diesem Grund hatte Martin Bornschier (SPD), der Vorsitzende der Gemeindevertretung, zu einer Bürgerversammlung eingeladen, die aufgrund des großen Interesses verlegt werden musste. Bürgermeister Axel Schmidt (CDU) und die neue Kämmerin Tanja Brand informierten über die finanzielle Schieflage, mögliche Ursachen und Lösungsmöglichkeiten.



Seit dem 1. November des vergangenen Jahres ist Schmidt Bürgermeister. Was er bei Amtsantritt vorfand, ließ ihn "schlucken", so Schmidt. Denn für die Jahre 2017 bis 2020 gab es keine genehmigten Haushalte in der Gemeinde. Nur im Jahr 2021 wurde wieder ein Haushalt vom Regierungspräsidium Kassel genehmigt. Für 2022 und 2023 gibt es ebenfalls keine genehmigten Gemeinde-Haushalte.

Investitionsstau durch vorläufige Haushaltsführung

"Wir wollen heute schauen, wie die aktuelle Lage aussieht und welchen Weg wir einschlagen wollen", sagte Bornschier zur Begrüßung. Bürgermeister Schmidt stellte in seiner Präsentation die Situation der Gemeinde vor. "Ich steige mit einem Schock ein, nämlich allem, was in den vergangenen Jahren nicht gemacht wurde", so Schmidt. Dazu zählen unter anderem die Neubauten von Kindergarten und Feuerwehrhaus, neue Stellen, Geschwindigkeitsmessanlagen, Investitionen ins Wasser- und Abwassernetz sowie Verschönerungsarbeiten. Schmidt nannte weitere Punkte, die er unter "Investitionsstau" subsumierte, beispielsweise bei Kläranlagen, Friedhöfen und an weiteren Stellen. "Alles, was Geld kostet und nicht zwingend nötig ist, wurde nicht gemacht", so Schmidt.

"Alles hat mit Geld zu tun. Und Geld heißt in Kommunen: Haushalt", so der Bürgermeister. Das Gemeindeparlament habe zu schauen, dass die Haushaltsführung ordentlich ist. Schmidt, gelernter Bankkaufmann, erläuterte die Zusammenhänge von Jahresabschluss, Haushalt und Haushaltsgenehmigung. "Die Hessische Gemeindeordnung verknüpft die Pflicht zur fristgerechten Aufstellung des Jahresabschlusses mit der Haushaltsgenehmigung", zitierte Schmidt aus der HGO.

Gemeindewerke als Wurzel des Übels

In Kirchheim gibt es neben der Gemeinde die Gemeindewerke, sozusagen eine "Tochterfirma" der Gemeinde. Sie wurde laut Schmidt wie ein eigenständiges Unternehmen gehandhabt. "Beides gehört untrennbar zusammen." Ein Großteil aller kommunalen Gelder seien über die Gemeindewerke gelaufen, in deren Zuständigkeit Wasser, Abwasser, später auch das Schwimmbad, Immobilien sowie Energie und der Wildpark fielen. "Das Dilemma der letzten Jahre ist, dass die Gemeindewerke zuletzt für das Jahr 2015 einen geprüften Jahresabschluss vorliegen haben", sagte Schmidt. Für eine Haushaltsgenehmigung seien aber die Jahresabschlüsse der Gemeinde und der Gemeindewerke notwendig.

Nach Amtsantritt habe er sich mit der Thematik beschäftigt und wollte nicht glauben, was er vorfand: Alle Daten der Gemeindewerke fanden sich auf einem einzigen Rechner, zu dem auch nur eine Person Zugang hatte. Da der Rechner nicht an das Internet angeschlossen war, wurden keine Updates des Buchhaltungs-Programms gemacht - welches zudem ein anderes war, als das von der Gemeinde genutzte.

"Organisationsversagen" des Amtsvorgängers

Der zuständige Mitarbeiter war jedoch nicht nur für die Gemeindewerke tätig, sondern zudem auch noch Leiter der Buchhaltung der Gemeinde sowie der Gemeindewerke und hatte zwischenzeitlich auch noch das Bauamt und das Hauptamt in leitender Funktion übernommen. "Diese ganzen Aufgaben kann ein Mensch alleine nicht leisten", konstatierte Schmidt. Dem vorherigen Bürgermeister Manfred Koch warf er deswegen "Organisationsversagen" vor. Der betreffende Mitarbeiter ist zum 31. Dezember 2022 von seinem Amt als Betriebsleiter zurückgetreten und mittlerweile freigestellt.

Schmidt zeigte auch auf, dass die Vorgänge innerhalb der Gemeinde (fehlender Jahresabschluss) in der freien Wirtschaft sogar einen Straftatbestand laut Strafgesetzbuch darstellen würden. Da eine Gemeinde kein Privatunternehmen sei, sei die einzige Konsequenz aus fehlenden Abschlüssen die "Vorläufige Haushaltsführung" gemäß Paragraf 99 HGO. "Sobald ein Kommunalhaushalt nicht genehmigt wird, ist es automatisch eine vorläufige Haushaltsführung", erläuterte Tanja Brand, die seit dem 1. September dieses Jahres Leiterin der Finanzen und des Hauptamtes in Kirchheim ist.

"Wir dürfen kein Geld ausgeben"

Die Konsequenz einer vorläufigen Haushaltsführung ist, so Schmidt: "Wir können und dürfen kein Geld ausgeben." Er führte auf, welche Investitionen in den vergangenen Jahren auf der Strecke geblieben sind. Und diese Liste ist lang: Kindertagesstätte, Straßenbau, Machbarkeitsstudien, Sanierungen und die Errichtung von Fotovoltaikanlagen sind nur einige der Punkte, die in Kirchheim nicht umgesetzt werden konnten. "Viele Maßnahmen wurden nicht ausgeführt, das Geld - rund 3,09 Millionen Euro - hingegen trotzdem ausgegeben", so der Bürgermeister. Auch Zuschüsse seien für bestimmte Maßnahmen geflossen - die nicht in Angriff genommen wurden. "Die Zuschüsse wurden für andere Dinge ausgegeben", sagte Schmidt. Er hoffe, dass im Zuge der Aufarbeitung diese Gelder nicht zurückgezahlt werden müssten.

"Wir müssen die Finanzen ordnen. Und dafür brauchen wir Fachpersonal". Mit Tanja Brand sei die richtige Person dafür gefunden worden. "Es ist schonmal gut, dass das Gemeindeparlament die Auflösung der Gemeindewerke beschlossen hat." Die Auflösung muss sukzessive vorangehen, sodass der Bürgermeister zum 1. Januar 2025 mit der endgültigen Beendigung rechnet.

Ein weiteres Problem der undurchsichtigen Finanzlage schilderte Schmidt auch: "Wir wissen nicht, welche Zahlen uns aus den letzten Jahren vorliegen. Wir können nicht sagen, ob die Steuern und Gebühren in der Gemeinde aktuell stimmen." Doch mit dem Offenlegen der Problematik sei eine "Initialzündung" gesetzt. "Ab 2024 werden wir eine einheitliche Buchführung haben. Wir haben auch externe Experten mit ins Boot geholt", sagte Schmidt. Jetzt müssten die Jahresabschlüsse der Gemeindewerke nachgeholt und geprüft werden. "Erst dann ist ein genehmigter Haushalt in Sicht".

Perspektivisch heißt das, dass der Haushalt für das Jahr 2024 frühestens im Sommer des nächsten Jahres stehen könnte. "Ab 2025 können wir dann zum Haushaltsrecht, dem Königsrecht der HGO, zurückkehren" hofft Axel Schmidt. Ziel sei es, die geplanten Investitionen umsetzen zu können. "Wir gehen es gemeinsam an", so Schmidt.

Unmut aus der Zuhörerschaft

In der anschließenden Fragerunde äußerten einige Bürgerinnen und Bürger ihren Unmut über die aktuelle Situation.  Von "Realitätsverlust" und "ein Fall für die Staatsanwaltschaft" reichten die Äußerungen aus dem Publikum. "Wir haben keine Rücklagen", musste Schmidt auf eine entsprechende Frage aus dem Plenum antworten. "Wir wissen nicht, ob wir einen Überschuss oder einen Fehlbetrag haben", ergänzte Tanja Brand. "Ich schließe aber aus, dass in den vergangenen Jahren jemand in die eigene Tasche gewirtschaftet hat", konstatierte der Bürgermeister.

"Es ist alles gewusst worden. Aber man hat einfach so weitergemacht", so Brand auf die Frage, wo die Kontrollstellen in den vergangenen Jahren waren. "Es hätte in der Verwaltung gehandelt werden müssen." Sie verwies darauf, dass es in einer Kommune nicht nur einen Bürgermeister, sondern auch die Gemeindevertretung gebe.

Schmidt selbst war zwei Jahre lang Mitglied der Betriebskommission der Gemeindewerke, die eine Aufsichts- und Kontrollfunktion hätte übernehmen sollen. "Eine ordentliche Beschlussfassung war zumindest in den zwei Jahren meiner Mitgliedschaft nicht möglich", sagte Schmidt. Der Schuldenstand der Gemeinde belaufe sich auf eine Summe zwischen zwölf und 13 Millionen Euro, antwortete der Bürgermeister auf eine entsprechende Frage. "Das ist alles unschön. Nichtsdestotrotz muss man damit umgehen", so Schmidt am Ende der rund eineinhalbstündigen Versammlung. (Christopher Göbel) +++

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