Frieden ist möglich!

Navid Kermani erhält Winfriedpreis 2023 der Stadt Fulda

Freude auf allen Gesichtern - Navid Kermani ist der 23. Winfriedpreisträger, die Laudatio auf ihn hielt Professor Claus Leggewie. Im Kuratorium des Winfriedpreises arbeiten die Stifterfamilie, das Bistum und die Stadt zusammen - stellvertretend dafür hier Weihbischof Prof. Karlheinz Diez, Stadtverordnetenvorsteherin Marga Hartmann, Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld sowie die Ehefrau und Witwe des Preisstifters, Christine Waider.
Alle Fotos: Martin Engel

06.11.2023 / FULDA - Navid Kermani ist am Sonntag als 23. Preisträger mit dem Winfriedpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet worden. Als er seine mit Standing Ovations bedachte Dankrede mit dem Satz "Frieden ist möglich!" beschloss, war zu spüren, warum er nicht nur einer der klügsten Köpfe Deutschlands ist, sondern auch ein Vorbild gegen Mut- und Hoffnungslosigkeit.


Die Botschaft des Winfriedpreises

Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld hatte viele Ehrengäste im Fürstensaal zu begrüßen, an erster Stelle natürlich den Preisträger Navid Kermani und seine Partnerin, die Schauspielerin Sarah Sandeh, Laudator Professor Claus Leggewie, Christine Waider, die Ehefrau des Stifters sowie deren Töchtern Bettina und Stefanie samt Partnern und Kindern. Heinz Waider, der in Fulda geborene Stifter des Preises, hatte das Entsetzen des Kriegs am eigenen Leib erlebt und beschlossen, es müsse Wege geben, wie man Menschen daran hindern könne, Krieg gegeneinander zu führen. Sein Preis ehrt die, die sich für Völkerverständigung und Frieden einsetzen.

"Sie alle sind heute und hier Ehrengäste", so der Oberbürgermeister, der aber doch einige namentlich heraushob. Darunter Weihbischof Prof. Karlheinz Diez, Generalvikar Christof Steinert und seinen Vorgänger, Prof. Gerhard Stanke, den Leiter der Theologischen Fakultät Prof. Cornelius Roth, den Provinzial der Franziskaner Cornelius Bohl, Bengt Seeberg, Dekan emeritus der evangelischen Kirche sowie den Winfriedpreisträger des Jahres 2016, Benediktinerpater und Abtprimas emeritus Notger Wolf. Mit Dr. Wolfgang Hamberger, Dr. Alois Rhiel und Gerhard Möller begrüßte der OB seine drei Vorgänger im Amt, "die seit 1970 Fuldas Geschichte geprägt hätten".

Laudatio auf den "anstößigen" Kermani

Der stark erkältete Prof. Claus Leggewie hatte es sich nicht nehmen lassen, trotzdem nach Fulda zu reisen, um die Laudatio zu halten. Er wolle aber weniger über den bekannten und beliebten Autor von wissenschaftlichen und belletristischen Werken reden, sondern über den "anstößigen" Kermani, also den, der immer wieder Denkanstöße gäbe und damit auch unbequem sei.

In seiner Laudatio, die sich mit ihren Exkursen zeitweilig eher wie eine Vorlesung anfühlte, ging es um das Beten, zu dem Kermani im Sinne eines Gott Näherkommens immer wieder auffordere, um die Berechtigung und/oder Notwendigkeit des Missionierens und die "schreckliche Politisierung der Religion". Leggewie warf dabei auch die Frage auf, ob es zum Beten tatsächlich einer Organisation oder eines Klerus bedürfe, denn die Fragen an Gott käme in existentiellen Situationen ganz von selbst. Er gab Kermani seinen Wunsch mit, doch auch über Fragen der Ökologie öffentlich stärker nachzudenken, eine Anregung, die der Preisträger aufgriff und versprach, sich dieses Themas stärker anzunehmen.

Erkenntnis aus der Erfahrung des Schreckens

"Das europäische Projekt ist eine der weltgeschichtlich größten Leistungen überhaupt. Es brauchte zwei Weltkriege, bis die Menschen an diesen Punkt kamen", begann Kermani seine Dankesrede. Die 70 Jahre Frieden in Europa seien keine Selbstverständlichkeit gewesen, sondern die Ausnahme. Und womöglich sei unsere Generation, die keine Kriegserfahrung gemacht habe, gerade dabei, dieses Projekt zu verspielen.

Auch wenn wir in Deutschland so viele Jahrzehnte in Frieden gelebt hätten, friedliche Zeiten seien es nicht gewesen. Unerbittlich zählt Kermani alle Kriege auf, von Afghanistan, dem Balkan, den drei Golfkriegen, Georgien, der Ukraine, Armenien/Aserbaidschan bis zum Nahost-Krieg. Viele Kriege erreichten gar nicht unser Bewusstsein, wie etwa der im Jemen oder der in Tigray/Äthiopien, obwohl dort die Zahl der zivilen Opfer ungeheuer groß sei. Allein der Jemenkrieg habe bislang ca. 400.000 Todesopfer gefordert. Aber unsere Wahrnehmung sei immer bezogen auf das, was uns nahe sei.

"Die Kriege kamen immer näher", so Kermani, zunächst durch die Flüchtlingswelle 2015, dann durch die Kriege in Osteuropa. "Die deutsche Abhängigkeit von Russland entstand genau in dieser Zeit, seit 2014, als Putin immer aggressiver wurde. Man nannte das Realpolitik. Aber noch nie hat Politik so massiven Schaden angerichtet wie diese Realpolitik. Merken Sie sich bitte: Die realpolitischen Quittungen kommen immer."

Das Existenzrecht von Israelis und Palästinensern gehört zusammen

Wie nun umgehen mit dem von der Hamas entfesselten Terror? Er trete selbstverständlich für die Rechte des palästinensischen Volkes ein, aber was in Deutschland aktuell an palästinensischer Unterstützung auf den Straßen zu sehen sei, sei ihm "zu dumpf, zu einseitig, und vor allem zu antisemitisch". Nur, wer den Terror der Hamas eindeutig und mitfühlend verurteile, wer Empathie für dessen jüdische Opfer zeige, wer den Juden in Deutschland beistehe und das glaubwürdig formuliere, der könne auch Kritik an der Politik Israels formulieren. Dies allerdings nicht im Sinne eines relativierenden "ja, aber…", sondern im Sinne eines kämpferisch-weiterdenkenden "aber". Und vor jedes "aber" gehöre eine Pause, genau die habe im öffentlichen Diskurs gefehlt. Deshalb klinge die Kritik an Israel so falsch, sogar dann, wenn sie richtig sei.

"Die Politik der maximalen Härte in Israel ist umfassend gescheitert", so Kermani. "Ich hoffe, diese Erkenntnis breitet sich auch in Israel allmählich aus. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Friedensprozesses geht es allen schlechter, den Israelis genauso wie den Palästinensern. Es gibt auf beiden Seiten nur Verlierer. Die einzig realistische Art, wie wir zusammenleben können, ist Frieden." Dann schlug Kermani den Bogen zurück zum Namensgeber des Preises und der Anekdote mit der Donareiche, die Bonifatius gefällt haben soll. Die Angst, das Furchtbares passieren würde, wenn der Baum des Kriegsgottes gefällt würde, sei riesengroß gewesen. Passiert sei nichts – Frieden ist möglich!" Seine Rede beantwortete das Publikum mit Standing Ovations.

Musik von Grenzgängern

Schüler der Musikschule Fulda setzten bei der Preisverleihung wieder einen besonderen musikalischen Akzent, an diesem Tag waren es Marlon Mazur, Erik Oldenburg und Leo Lichtermann (Klavier) sowie Svea Gutmann (Violine). "Das sind Musiktalente, nein, das sind großartige junge Musiker", hatte der Oberbürgermeister ihre Leistung sehr richtig eingeordnet. Zunächst erklang die Etüde No. 8 "Wilde Jagd" aus den Ètudes d’exécution transcendante von Franz Liszt, die – wie der gesamte Zyklus – schwierig zu spielen ist. Musikalisch zieht eine Schar von Spukgestalten vorbei, ein durchaus passender Kommentar zur aktuellen Weltlage.

"Caravan", das melancholisch-zarte Stück des persisch-französischen Musikers Aminollah Hossein war eine Hommage an den Winfriedpreisträger. Sergej Rachmaninows Etüde-Tableaux (Bilder-Etüden) in g-moll aus op.33 No. 8 ist von ruhiger Traurigkeit und doch Klarheit, auf mich wirkte sie wie ein Gedankenstrom – und wer hätte den an diesem Tag und nach dieser Veranstaltung nicht gehabt?

Warum gerade Liszt und Rachmaninow?, frage ich Natalya Oldenburg, die Leiterin der Musikschule, und sie antwortet mir: "Weil beide nicht nur über die Grenzen des Klavierspiels, sondern auch über die des Musikers und Komponisten hinausgegangen sind. Sie haben sich mit kulturpolitischen Themen beschäftigt, sie haben Stellung bezogen in kritischen Fragen. Das passt zu Navid Kermani, der so viel mehr ist als ein Schriftsteller und Publizist." Stimmt. Kermani ist ein Denker, er liebt Poesie, Literatur und Philosophie, und er ist ein gläubiger Mensch. Daraus schöpft er seine Erkenntnisse und teilt sie mit uns. Genau das, was wir in einer komplexen Welt brauchen. (Jutta Hamberger) +++

Weiterführende Links

Besprechung von Kermanis letztem Buch "Das Alphabet bis S": https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-von-navid-kermanis-roman-das-alphabet-bis-s-19170754.html

Kermani zu Gast bei Michael Krons: https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-persoenlich/navid-kermani-zu-gast-bei-michael-krons/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMjk4NDc5OA

Festrede Kermanis zum 65. Jahrestags des Grundgesetzes: https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2014/280688-280688

Kermani über die Lage im Nahen Osten: https://www.ksta.de/kultur-medien/navid-kermani-ueber-die-lage-im-nahen-osten-das-ist-ein-neuer-30-jaehriger-krieg-664356

Kermani über das fehlende Sicherheitsgefühl israelischer Bürger: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2023-10/navid-kermani-das-alphabet-bis-s-frankfurter-buchmesse

Kermani über Auschwitz und Deutsche: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/auschwitz-morgen-navid-kermani-ueber-die-zukunft-der-erinnerung-15094667.html

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