Was wir lesen, was wir schauen (78)

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien - Ein jeder Engel ist schrecklich

Schloss Duino in der Nähe von Triest. Hier begann Rilke 1912 seine „Duineser Elegien“
© Pixabay

22.10.2023 / FULDA - Im Winter 1912 beginnt Rainer Maria Rilke mit seinem wohl berühmtesten Gedichtzyklus, den "Duineser Elegien". Dieser spiegeln seine Zeit mit all ihren Brüchen, Umbrüchen und Verunsicherungen, in sie fließen auch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs ein, außerdem Liebes- und Lebenskrisen des Dichters. Zehn Jahre dauert es, bis Rilke die Elegien beendet hat, 1923 erscheinen sie erstmals.

Das Schöne ist schrecklich



Rilke gehört seit jeher zu meinen Lieblingsautoren, auch wenn ich nie behaupten würde, ihn immer gänzlich zu verstehen. Aber vielleicht liegt genau darin der Reiz seiner Gedichte für mich. Immer wieder kehre ich zu ihnen zurück, lese sie, oft auch laut. Viele Passagen kann ich auswendig. Mein erstes Rilke-Gedicht war – Schullektüre – natürlich "Der Panther", dieses faszinierende Gedicht über eine Kreatur in einem Käfig, die nicht mehr sie selbst sein kann und doch nie ihre Würde verliert. Bald entdeckte ich die "Engellieder", und von da ab war Rilke aus meinem Lese-Leben nicht mehr wegzudenken.

Die ersten drei der Duineser Elegien entstehen 1912 bis 1913, die vierte 1915, da ist Rilke schon als Soldat eingezogen. Es folgen Jahre der Schreibblockade, bis Rilke die Elegien 1922 auf dem abgeschieden liegenden Schloss Muzot im Schweizer Kanton Wallis beendet. In jenen Jahren schreibt Rilke so gut wie nichts anderes, so sehr dominieren die Elegien ihn und sein Schaffen. Rilke hat beschrieben, dass der Beginn der ersten Elegie wie eine Eingebung für ihn war. Im Garten von Schloss Duino – in der Nähe Triests und direkt an der Adria gelegen – habe er eine unbändige Energie verspürt, die ihn schier hinübergezogen hätte auf die andere Seite, in einen an unser Leben angrenzenden Bereich.

Gleich die erste Elegie reißt einen zunächst in einen Abgrund an Verzweiflung:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. 
Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

Das Leben ist brüchiger geworden, und viele werden nachvollziehen können, was Rilke meint, wenn er schreibt, wir seien "nicht verlässlich zuhause in der gedeuteten Welt". Das war so zu Rilkes Zeit, womöglich stimmt der Befund heute sogar noch mehr. Wir sind verunsichert. So viel ändert sich um uns herum, und wir können oft nicht absehen, wohin diese Veränderungen führen. Das überfordert uns. Und wenn wir nach Antworten suchen, bekommen wir oft keine oder solche, die uns noch stärker beunruhigen. Zur Entstehungszeit litt Europa unter den Folgen des Ersten Weltkriegs – heute beschäftigen uns vor allem die gegen die Ukraine und Israel angezettelten Kriege.

Die Duineser Elegien sind das lyrische Dokument der Brüchigkeit menschlichen Seins. Rilke schreibt über den Schmerz, über das Entsetzen jener Jahre, aber es geht hier weniger um die äußeren Umstände als um seine innere Verfasstheit. Wie kann man leben, wenn man das Leben nicht wirklich begreift? Und begreifen muss man vor allem eines: Es gibt unerreichbare Gegenbilder, und es gibt Vorbilder, die man manchmal oder ungefähr erreichen kann. Dies auszuhalten macht vielleicht die ‚conditio humana‘ aus, um die es in Rilkes Elegien geht. Nicht gerade einfach, wenn die Sehnsucht nach Eindeutigkeit groß ist.

Trost aus der Zerrissenheit schöpfen

Im Dezember 1925 blickt Rilke auf sein Werk zurück und schreibt an einen Freund: "Dass ein Mensch, der sich durch das heillose Zusetzen jener Jahre bis in seinen Grund zerspalten gefühlt hatte, erfährt, wie unter diesem aufgerissenen Spalt die Kontinuität seiner Arbeit und seines Gemüts sich wiederherstellte, scheint mir mehr als nur ein privates Ereignis zu sein; viele, die sich zerrissen glauben, dürften aus diesem Beispiel eine eigentümliche Tröstung ziehen."

Genau das ist meine Leseerfahrung – mich ergreifen und berühren diese Worte immer wieder stark. Und ich fühle mich danach fast wie getröstet. Die Sprache Rilkes fließt, erinnert mal an den klassischen Hexameter, dann wieder an einen "stream of Consciousness". Sie schwingt, folgt ihrem eigenen Rhythmus, ist mal glasklar und dann wieder rätselhaft. Der Text ist Klage, aber auch Lobpreis. Er gleicht einem Selbstgespräch Rilkes über die existentiellen Themen des Menschen: Tod, Leben, Liebe, Sexualität, Denken, Bewusstsein. Dabei schreitet Rilke den ganzen menschlichen Kosmos in seiner Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit ab. In der achten Elegie heißt es:

Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

Rilkes Engel sind nicht die der Bibel und schon gleich gar nicht die, die in wenigen Wochen die Weihnachtsmärkte bevölkern werden. Rilkes Engel sind nicht niedlich, sondern kraftvoll und fordernd. Sie stehen für eine Macht, die gleichzeitig beschützend und bedrohlich ist und die kein Mensch jemals ganz verstehen kann. Aber genau in der Konfrontation damit kann es gelingen, die Fragmente menschlichen Seins wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Rilkes Engel sind schön und schrecklich, erst wenn man ihre Ambivalenz aushält, kann man einen tieferen Blick auf sein eigenes Leben werfen. Mir hilft das in einer Zeit, in der uns Widersprüche manchmal fast zu zerreißen drohen und Populisten billige Scheinantworten anbieten, auf die so viele Menschen hereinfallen: Widersprüche gehören dazu, und Probleme kann man nicht linear einfach abarbeiten. Was einem wie eine Lösung vorkommt, schafft unvorhergesehen ein neues Problem an anderer Stelle. Es gibt keine einfachen Antworten, denn: "Nirgends wird Welt sein als innen."

 (Jutta Hamberger) +++

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