Gespräch in der Warzone – Teil 1
"David ist eingezogen, seine Frau im 9. Monat" - Schock nach Angriff auf Israel
Foto: picture alliance/dpa | Mohammed Talatene
11.10.2023 / TEL-AVIV/FULDA -
Eigentlich sollte dies ein Samstag wie viele werden, nun ja, ein bisschen anders, war es doch der letzte Tag und damit Endspurt in der Hessischen Landtagswahl. Wie üblich erlaube ich mir ein späteres Frühstück als unter der Woche, und wie üblich beginne ich den Tag mit Zeitungslektüre.
Ungläubiges Entsetzen
Dann der Schock – Angriff auf Israel. Bereits um 06.30 Uhr morgens hatte die Hamas ihren Großangriff gestartet. 2.000 Raketen? Entführte Israelis? Ein Blutbad bei einem Musikfestival? Einmarsch von Hamas-Kämpfern in Israel, einfach so? Wie um Himmels Willen war das möglich? Die haben doch eine starke Armee und einen genauso starken Geheimdienst, wie kann es sein, dass alle überrascht wurden?
Wie geht es Dir?
"David ist schon eingezogen, seine Frau Nata ist im 9. Monat. Ori ist auf Stand-by. Zeev und ich sind ok, rein in den Bunker, raus aus dem Bunker. Es gab ein paar Einschläge in der Nähe, aber auf freier Fläche. Talja ist auf dem Rückflug aus den USA und weiß nicht, ob und wo sie ankommt."
(Ich): Wieder am Laubhüttenfest, wie vor 50 Jahren. Stimmt es, was hier geschrieben wird, dass die israelische Regierung Warnungen erhalten hat, die aber ignorierte?
"Die Analogien sind Teil des Spiels – in den arabischen Ländern wird der Kippur-Krieg noch immer als grandioser Sieg gefeiert. In Ägypten hat man eine Stadt und Brücken '6. Oktober' benannt. Was die Warnungen betrifft: Hier steckt alles im Nebel und in der Militärzensur, und Ori (der gerade vom Notfalldienst gekommen ist) sagt, es ist viel übler als bisher bekannt. Denkbar jedenfalls ist es – wie vor 50 Jahren. Oder aber, und das ist genauso schlimm: Der Nachrichtendienst hat versagt."
(Ich): Wobei man sich das beim Mossad doch eigentlich überhaupt nicht vorstellen kann.
"Der Mossad lebt von seinem Ruf, nicht mehr von seinen Taten. Aber wenn es tatsächlich so ist, können wir einpacken. Ignoranz der Regierung wäre leichter zu handhaben."
Steigende Todeszahlen
Derweil kommen immer mehr Nachrichten aus Israel. Hohe Todeszahlen, 300 werden zunächst genannt, aber die Zahl steigt immer weiter, aktuell sind wir bei 1.100. Damit Sie das einordnen können: Das ist ein ungeheuerlicher Blutzoll für ein kleines Land mit einer kleinen Bevölkerung. Auf deutsche Verhältnisse übertragen, müssten Sie an diese Zahl eine 0 dranhängen. Wie liest sich das – 11.000 Tote in zwei Tagen? Die Schockstarre in Israel verstehen Sie jetzt sicher besser. Und noch ein Zahlenvergleich, den machte der israelische Präsident Isaac Herzog: Noch nie seit dem Holocaust sind an einem Tag so viele Juden ermordet worden. Auch das macht die Tragweite dieses Angriffs überdeutlich. Wieder schreibe ich:
(Ich): Guten Morgen, wie geht es dir? Wie geht es euch? Der Spiegel schreibt, der Angriff sei das Pearl Harbour Israels. Und auch, dass die Kämpfe weitergehen. Und schon mehr als 300 Israelis getötet worden sein. Wir denken an dich!
"Danke, dass du nachfragst! Pearl Harbor, 9/11, alles richtig. Die Zahl der Toten wird kontinuierlich nach oben korrigiert, da noch nicht alle Leichen gefunden und / oder versorgt sind. Die Kämpfe gehen auf israelischem Gebiet weiter – offenbar gibt es noch genügend Schlupflöcher von Gaza nach Israel. Der Raketenbeschuss hat abgenommen (wahrscheinlich spart man die Bestände grundsätzlich für den israelischen Einmarsch auf, oder einfach nur für den Abend: Das ist nach den Erfahrungen die populärste Zeit).
Die Nation klebt an den Nachrichtensendern (wir nicht so sehr – vor allem keine Bilder, aus Selbstschutz – es genügt, die Schlagzeilen und jede Stunde den Newsfeed zu lesen). Die Mobilmachung ist beispiellos. Vier Divisionen sind im Süden zusammengezogen, zusätzlich zu den ohnehin schon stationierten Truppen. Ori ist in Sderot in Einsatz, David in der Westbank bei Nablus. In unserer Straße – wir sind ein Wohnviertel, das aus Einfamilienhäusern besteht – gibt es kein Haus, in dem nicht ein Kind oder zwei eingezogen wurden. Ich muss mich sehr zwingen, an andere Dinge zu denken, sonst werde ich wahnsinnig. Wir haben unsere Schwiegertochter zu uns geholt, sie ist im 9. Monat schwanger.
Ich nutze die Gelegenheit und informiere alle Kon-Abiturientinnen über Gabys Situation. Das Erschrecken ist groß, immer wieder erreichen mich Kommentare wie diese: Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn meine beiden Söhne in den Krieg ziehen müssten. Nicht vorstellbar, welche Angst man hat, vor allem auch um seine Kinder. Da werden alle anderen Probleme nichtig und unwichtig. Die traurigen Nachrichten machen mich demütig.
So ist es. Wie gut geht es uns, die wir jeden Abend sorgenfrei ins Bett gehen können, die wir keine Angst vor Raketen haben müssen und nicht den Weg zum nächstgelegenen Bunker in- und auswendig kennen müssen. Mal ganz davon abgesehen, dass es in Fulda keine Bunker mehr gibt, in die man flüchten könnte. (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg) +++
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