Landrat spricht Klartext in Flüchtlings-Lage: "Stehen mit dem Rücken zur Wand"
Fuldas Landrat Bernd Woide (CDU) im O|N-Gespräch über die Flüchtlingssituation.
Fotos: Hendrik Urbin
28.09.2023 / FULDA -Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck gilt als moralische Instanz und genießt über alle Parteigrenzen hinweg hohe Wertschätzung und Autorität. Der 83-Jährige hat sich vor Kurzem im ZDF für eine Begrenzung der Zuwanderung ausgesprochen. Das sei "moralisch nicht verwerflich" und "politisch geboten", sagte er angesichts einer sich verschärfenden Situation in den Kommunen. Fuldas Landrat Bernd Woide (CDU) empfiehlt im Gespräch mit OSTHESSENlNEWS-Chefredakteur Christian P. Stadtfeld und stellv. Redaktionsleiter Bertram Lenz, sich Gauck in dieser Hinsicht als Vorbild zu nehmen, um endlich eine ehrliche Debatte zu führen.
Woide ist einer Einladung der O|N-Redaktion gefolgt. Hintergrund: Die Lage in den Städten und Gemeinden auch des Landkreises Fulda spitzt sich seit Monaten zu. Denn immer mehr Geflüchtete kommen und müssen untergebracht werden, gleichzeitig werden die Kapazitäten immer knapper.
Der Landrat spricht denn auch gleich zu Beginn von einer "dramatischen Situation": Der Landkreis Fulda und seine Kommunen fühlten sich bei der Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten zunehmend überfordert, die Belastungsgrenze sei erreicht. Und er attestiert den politischen Verantwortlichen im Bund, aus der Flüchtlingskrise des Jahres 2015/2016 (Angela Merkel: "Wir schaffen das!") nichts gelernt zu haben. Aktuell komme noch hinzu, dass viele Menschen auch in den Landkreis Fulda vor dem Ukraine-Krieg geflüchtet seien, und auch diese betreut werden müssten.
Woide: "Ich habe den Eindruck, dass die Akzeptanz in weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber der gegenwärtigen Migrationspolitik gegen null tendiert. Und auch die Mitarbeiter beispielsweise des Kreis-Jobcenters, des Fachdienstes Zuwanderung und der Ausländerbehörde sind am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angelangt".
Die Problematik dürfte sich in den kommenden Wochen und Monaten noch verschärfen: Dem Landrat zufolge beträgt die Aufnahmequote für den Landkreis Fulda 4,4 Prozent der dem Land Hessen zugewiesenen Flüchtlinge. Derzeit würden wöchentlich etwa 30 Personen zugewiesen, diese Zahl werde sich wohl ab Oktober auf wöchentlich bis zu 70 erhöhen. Plakativ ausgedrückt bedeute dies, dass im Landkreis Fulda jede Woche eine weitere Container-Wohnanlage aufgebaut werden müsste.
Bei der Übernahme von Flüchtlingen liegen noch diese Gemeinden im Rückstand: Kalbach, Eiterfeld, Dipperz, Neuhof, Großenlüder, Burghaun und Nüsttal.
"Nehmen, was geht und wo Platz ist"
"Für den Landkreis, der diesen hohen Unterbringungsdruck hat, ist es natürlich schwierig bis unmöglich, die individuelle Situation der Kommunen angemessen zu berücksichtigen. Es ist schlicht so: Wir müssen nehmen, was geht und wo Platz ist. Eine angemessene Planung und Verteilung der Flüchtlinge innerhalb des Landkreises ist daher gegenwärtig schlichtweg unmöglich", sagt der Landrat.
Er beklagt, "dass wir in der Migrationsdebatte in Deutschland festgefahren sind und endlich ehrlich mit uns sein müssen". Dazu gehöre auch, zu fragen, ob das in der Verfassung verankerte Grundrecht auf Asyl als individueller Rechtsanspruch bei einer so großen Zahl von Migranten überhaupt noch handhabbar sei. Die Grundlagen des heutigen Grundrechts auf Asyl stammten aus der Nachkriegszeit. Aus damaliger Sicht seien die heutigen Fluchtbewegungen so nicht vorstellbar gewesen.
"Eigentlich dürften nur diejenigen Asylbewerber auf die Kommunen verteilt werden, bei denen die realistische Wahrscheinlichkeit besteht, dass ihnen Asyl oder ein anderes Bleiberecht gewährt wird." Gegenwärtig sei es jedoch so, dass zunächst eine Verteilung auf die Kommunen erfolge – und erst dann das eigentliche Verfahren durchlaufen werde. Sechs Monate könne es bis zu einer Erst-Entscheidung dauern. Bei einer negativen Asylentscheidung lege erfahrungsgemäß ein sehr hoher Anteil Rechtsmittel ein, und bis darüber entschieden sei, könnten 26 Monate ins Land gehen.
"Herumdoktern an Symptomen"
Der CDU-Politiker spricht sich dafür aus, Asylverfahren in vier bis sechs Wochen schon vor der Verteilung auf die Kommunen abzuschließen. Damit könnten Hängepartien für alle Betroffenen vermieden werden. "Auch hier ist Ehrlichkeit gefragt", so Woide. Das Verfahren sollte im Übrigen bereits an den Grenzen erfolgen. Von den in jüngster Zeit durch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ins Spiel gebrachten zusätzlichen Grenzkontrollen hält er im Übrigen wenig: "Das ist im Grunde nicht mehr als ein Herumdoktern an Symptomen", sagt Woide.
Der Chef der Fuldaer Kreisverwaltung gibt außerdem zu bedenken, "dass Deutschland auch von seinen hohen moralischen Ansprüchen innerhalb Europas herunterkommen muss". Denn Deutschland nehme in der europäischen Migrationsdebatte eine Minderheitenposition ein. Dazu gehöre auch, sich Gedanken um die im europäischen Vergleich "sehr umfangreichen Sozialleistungen für Migranten" zu machen und darüber, wie es überhaupt um das "solidarische Verteilsystem von Migranten" in Europa bestellt sei, das eigentlich noch nie wirklich funktioniert habe.
Da müsse man beispielsweise nur in die osteuropäischen EU-Länder oder nach Dänemark schauen. Generell müsse es zu einer politischen Lösung auf Bundes- und EU-Ebene kommen. Gerade von der EU wünsche er sich auch eine viel aktivere Rolle. Der Bund müssen endlich die angespannte Lage in den Kommunen berücksichtigen und seine Migrationspolitik dahingehend ausrichten.
Das Fazit des Landrates: "Die Politik hat sich inzwischen viel zu weit vom Empfinden der Menschen entfernt. Die Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet drastisch, verknüpft mit einem gravierenden Vertrauensverlust. Wichtig ist daher, dass - endlich - eine redliche Debatte geführt wird, gerade von allen demokratischen Parteien: In der Mitte der Gesellschaft muss darüber gesprochen werden". (Bertram Lenz) +++
Hintergrund
Aktuell in der jeweiligen Kommune wohnende Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften, dort gemeldete Personen aus der Ukraine sowie unbegleitete Jugendliche. Auskunft des Landkreises Fulda am Mittwochmittag, 27. September 2023: