Jüdische Geschichte

Tagebuch einer besonderen Woche: Sei das Licht (4)

Start der LGS-Tour am Eingang zum Sonnengarten. Unser Tourguide Nigel Beckett nimmt uns im Empfang, und alle flüchten sich in den wenigen Schatten dort oben
Fotos: Jutta Hamberger

10.09.2023 / FULDA - Ist diese Woche tatsächlich schon vorbei? Ich reibe mir die Augen, kann es kaum fassen. So viel haben wir in diesen Tagen erlebt, gemacht, gefühlt. War es anstrengend? Ja klar. Aber es war jede Minute wert – denn was man von dieser Woche in seinem Herzen mitgenommen hat, ist unbezahlbar.



Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld hatte am Mittwoch beim Empfang schon darauf hingewiesen, dass das wunderschöne Spätsommerwetter dem Einsatz von Dr. Thomas Heiler und seinem Team im Kulturamt zu verdanken sei. Also, lieber St. Petrus-Thomas Heiler, sehr gut gemacht – schöner hätte es ja kaum sein können. Ideales Wetter für alle Exkursionen, egal ob sie in die Rhön, die Fasanerie, Point Alpha oder die LGS führten.

Ein großes Danke vorneweg

Vermutlich machen sich die wenigsten Gedanken darüber, wie anspruchsvoll die Planung und Logistik dieser Woche tatsächlich war. Viele, viele Details mussten geklärt werden, und oft war es eben nicht mit einem einmaligen Telefonat getan. Das ging von Fragen wie ‚Wann öffnen wir das Archiv und wer ist als Ansprechpartner da?‘ über ‚Wo bekommen wir koscheres Essen her?‘ bis zu ‚Wo können die Morgengebete und die Sabbat-Feier stattfinden?‘ oder ‚Wer holt unsere Gäste am frühen Montagmorgen am Flughafen ab?‘ Für alles fanden sich Antworten und Lösungen, auch, weil alle, die mithalfen, so viel Engagement mitbrachten. Gerade das Archiv entwickelte sich zum Hotspot – denn viele wollten nach Vorfahren suchen und Stammbäume ansehen.

Die Fragen stimmten mich auf andererseits aber auch sehr nachdenklich, denn sie machen auf organisatorischer Ebene klar, was für ein Riesenverlust die Zerstörung der hiesigen jüdischen Gemeinde in der Zeit des Nationalsozialismus war, deren Nachwirkungen bis heute zu spüren sind. Menschen wurden deportiert und getötet, Synagogen zerstört, und natürlich auch die gesamte Infrastruktur der jüdischen Gemeinde. Lebt man heute in einer Großstadt, findet man als jüdischer Mensch in der Regel, was man braucht – aber hier?

Ernstes und Heiteres

Wenn ich die Woche vor meinem inneren Auge Revue passieren lasse, dann tauchen Gesprächsfetzen, Bilder, Menschen auf – ernste und heitere Themen vermischen sich. Sitzt man in einer Runde mit jüdischen Menschen, wird die Causa Aiwanger anders bewertet, ernster, und mit mehr Angst, was sie womöglich auslösen könnte. Sind wir an einem Punkt, an dem die Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus wieder salonfähig wird, auch jenseits rechter Kreise? Wird Ausgrenzung wieder zu einem politischen Mittel? Wieso nimmt die Politik erneut Zuflucht zu "wir hier" und "die da"? Wieso reißt sie neue, alte Gräben auf?

Und doch gibt es auch viele gelöste Momente, etwa als mir Jesse Pino im Bus erzählt, wie er zum Stricken kam – "ich wollte meiner damaligen Verlobten einen Pullover zur Hochzeit schenken, und merkte, dass man mit Häkeln keine Bündchen hinkriegt!" Ich – als totale Handarbeits-Analphabetin dank frühkindlicher Traumatisierung in der Grundschule – bin angemessen beeindruckt. Er zeigt mir eins seiner Strickwerke auf dem Handy, und widmet sich dann wieder seinen Socken. Mit sehr vielen Nadeln!

Als ich mit meiner Gruppe vom Ausflug zur LGS zurückkehre, begrüßen mich Rinat Weinberg und Katriel Fachler vergnügt in der Hotel-Lobby. Sie haben den Tag für etwas ganz anderes genutzt, Klettern in der Steinwand. Beide sind begeisterte Kletterer. Katriel ruft mir zu, "nicht immer nur erinnern und gedenken, man muss auch was Schönes in der Freizeit machen", das sei wichtig. Ein einfacher Satz, der im Kontext dieses Besuchs aber eine ganz andere Wucht bekommt. Wenn es möglich ist, bei einem "Family Heritage Meeting" mit den Nachfahren der ehemaligen Jüdischen Gemeinde Fuldas den Kopf und das Herz freizukriegen fürs Klettern, heißt das doch auch: da ist etwas entstanden, eine belastbare Brücke, über die man gehen kann. Deutsche und Juden können und sollen sich jenseits des Erinnerns begegnen, austauschen, voneinander lernen, miteinander aktiv sein.

Blühendes Paradies Landesgartenschau

Es passt zur Stimmung dieser Woche, dass die Landesgartenschau sich von ihrer allerschönsten Seite präsentiert, als wir am Freitagmorgen am Sonnengarten mit unserer Tour beginnen. Gemeinsam mit Klaus Orth begleite ich eine Gruppe von über 50 Gästen. Drei Tourguides erwarten uns, ich lande im Team Nigel Beckett – einem Briten, der vor über 30 Jahren aus beruflichen Gründen hierherkam, sich in Fulda verliebte und blieb. Weil Fulda eine der schönsten Städte Deutschlands sei. Siehste! Sein Deutsch ist hervorragend, ich witzele, ich hätte beruflich immer viel mit seinen Landsleuten zu tun gehabt und dabei stets festgestellt: Entweder sprechen sie kein Wort Deutsch, oder so überragend gut wie er.

Der Sonnengarten, der zu Beginn der LGS noch ein wenig traurig wirkte, weil ja alles erst angepflanzt worden war und wachsen musste, ist eine einzige Pracht. Es duftet, die Farben sind überwältigend, überall sausen Bienen und andere Insekten herum – "viele 5-Sterne-Restaurants hier für sie", lacht Nigel. Er vermittelt den nachhaltigen Ansatz der LGS, und macht an einzelnen Punkten auf Besonderheiten aufmerksam. Überhaupt ist es eine tolle Führung – nicht zu detailversessen, die große Linie nachzeichnend und das Wesentliche immer im Fokus. Niemand ist auch nur für zwei Minuten desinteressiert oder abgelenkt. Das Interesse unserer Gäste ist groß, man vergleicht, wie man in Kibbuzim arbeitet – in Israel sind Themen wie Wasserknappheit, Hitze, Resilienz der Pflanzen genauso bedeutend wie zunehmend auch in Deutschland. Auch der Gärtnertreff kommt sehr gut an, bestimmt auch, weil es hier neben kleidsamen grünen Hütchen gegen die Hitze auch die ein oder andere Zucchini, Artischocke oder Tomate zum Mitnehmen gibt.

Viel Anklang finden auch die Spielplätze und der Tierpark. "Ich bin ein Kind", höre ich von einem unserer Gäste, der es sich nicht nehmen lässt, den Wasserspielplatz, die Rutsche und die Trampoline auszuprobieren und andere dazu animiert, es ihm gleichzutun. Im Tierpark haben die Ziegen und Kühe recht wenig Interesse an uns, es ist Fresszeit. "Wir sind hier Gäste der Tiere, nicht umgekehrt", hat Nigel uns eingeschärft, das respektieren alle. Wie überhaupt die Neuausrichtung des Tierparks weg von Futtertüten und hin zu Begegnungen mit Tieren sehr gut ankommt.

Was für eine schöne, gelöste Stimmung! Besser hätten diese Tage doch gar nicht ausklingen können. Immer wieder sehe ich, wie Adressen ausgetauscht werden, wie auf die WhatsApp-Gruppe Fulda hingewiesen wird – ja, hier wächst etwas. Das lässt einen mit froher Zuversicht in die Zukunft blicken, in der Fulda sich in Sachen Jüdische Geschichte noch viel vorgenommen hat. Deshalb wandle ich den traditionellen jüdischen Wunsch des Sederabends, "L'Shana Haba'ah B'Yerushalayim", ab und sage: Nächstes Jahr in Fulda! (Jutta Hamberger)+++

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