Jüdische Geschichte
Tagebuch einer besonderen Woche: Sei das Licht (2)
Fotos: Jutta Hamberger
07.09.2023 / FULDA -
Zwei Ereignisse, zwei Empfänge – und zwei Begrüßungen durch Oberbürgermeister Dr. Wingenfeld. Am Montag (04.09.) sprach er bei der hochkarätigen, international besetzten Tagung zur Jüdischen Geschichte, am Mittwoch (06.09.) beim Empfang für die Nachfahren der ehemaligen Jüdischen Gemeinde Fuldas.
"Zukunft braucht Vergangenheit" lautete das Motto des Fuldaer Jubiläumsjahres 2019. Es kennzeichnet eine Haltung, in der sich Geschichtsbewusstsein mit dem Willen verbindet, die Zukunft zu gestalten. Damit setzt der OB den Ton für beide Empfänge. Aber tatsächlich überstrahlten viele persönliche, kostbare Momente diese Tage.
Fuldas jüdische Geschichte sichtbar machen
Auch, dass es mit Anja Listmann eine Beauftragte für das Jüdische Leben in Fulda gäbe, sei ein deutliches Zeichen. "Ohne Dich wären wir alle nicht hier", so der Oberbürgermeister, und in der Tat: ohne Anja Listmanns Recherchen nach Familienverzweigungen in alle Welt hätten viele Einladungen nicht ausgesprochen werden können.
Piazolla und Schnittke
Bei der Musik horche ich auf, das ist nicht das Erwartbare, kein Klezmer, kein Stetl. Natalya Oldenburg, die Leiterin der Musikschule, spielt Violine und wird von Marina Gajda am Klavier begleitet. Sie spielen zunächst "Oblivion" von Astor Piazolla, und dann eine Polka von Alfred Schnittke, der selbst unter Antisemitismus zu leiden hatte. "Wir haben bewusst auf traditionelle jüdische Musik verzichtet. Mit "Oblivion" wollten wir der Vergangenheit und den Erinnerungen eine Stimme geben. Und Schnittkes Polka ist ein Beispiel dafür, wie man das Leben mal sarkastisch, mal kläglich, mal haltlos, mal humorvoll nehmen kann. Und auch, wie man lachen und optimistisch sein kann, wenn das Leben nicht viel Fröhliches zu bieten hat", so Natalya Oldenburg. Das ist so empathisch ausgesucht!Vom Schlimmsten und von schönen Dingen
Alle, die in dieser Woche nach Fulda gekommen sind, haben Geschichten voller Schmerz und Hoffnung zu erzählen. David und Terri Goldmeier nehmen mich zur Seite, David war bereits 1987 beim ersten Treffen hier. "Ihren Vater habe ich bei der Einweihung des Fulda-Hauses kennengelernt. Er hat mich tief berührt, denn er sprach vom Verlust, den die Vernichtung der Juden für Deutschland in jeder Beziehung bedeute. Das hatte ich noch von keinem Politiker gehört. Als die Einladung nach Fulda kam, nahm ich dankend an. Und bei meinem zweiten Besuch 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, ist ihr Vater mit mir in die DDR gefahren und an die Grenze. Ich weiß noch, wie wir in ein Restaurant gingen und der ziemlich mürrische Wirt uns bedeutete, er könne uns keine Erfrischung anbieten. Draußen stand ein Händler mit Kirschen, ihr Vater wies den Wirt daraufhin und sagte: ‚Sie müssen das Geschäft schon zu sich holen, es wird nicht zu Ihnen kommen‘. Das habe ich nie vergessen."OB Wingenfeld erzählt von seiner Begegnung mit Julius Lump – wieder so ein Moment der Nach-Erschütterung. Der 1916 geborene Julius Lump habe ihm einmal gesagt: "Nicht Buchenwald war das Schlimmste, was ich erlebt habe. Das Schlimmste war, wie Vieh durch die Straßen Fuldas getrieben zu werden – unter dem Beifall meiner früheren Schulkameraden." Regina und Jordana Carmel, Tochter und Enkelin von Julius Lump, sind da und suchen das Gespräch mit ihm. Eine von vielen Geschichten, in denen sich das Grauen der Vergangenheit mit der Widerstandskraft und dem Mut zum "wir waren hier, wir sind hier, und hier werden wir bleiben" verbinden.
Finde bitte die Freunde meines Sohnes!
Und dann mein besonderer Suchauftrag. Meine Freundin Gaby wohnt seit über 30 Jahren in Tel Aviv, wohin es sie studienhalber verschlug, dann kam der richtige Mann, sie blieb da und gründete eine Familie. Unsere Verbindung ist nach wie vor eng. Per WhatsApp teilt sie mir dieser Tage mit, wen in der Gruppe ich unbedingt kontaktieren soll, nämlich Freunde ihres Sohns David, Katriel Fachler und Rinat Weinberg, sowie Rinats Mutter Achsa. Katriel ist ein Nachfahre der Familie Wertheim, Achsa und Rinat sind Nachfahren der Familie Kahn. Einzige Hinweise: Katriel trägt Bart, Rinat ist zierlich und blond. Ich entscheide mich, alle bärtigen jungen Männer anzusprechen – und finde ihn tatsächlich! Die Freude ist groß. Rinat erzählt mir, ihre Mutter habe nicht nach Fulda und nicht nach Deutschland kommen wollen, sie habe über ein Jahr gebraucht, sie zu überzeugen. Mit Hinweis auf "ich habe meinen Studienabschluss und wünsche mir das als Geschenk von Dir" gelang es schließlich. Ein denkwürdiger Festvortrag
Daniel Neumann, der Vorsitzende des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen, hielt am Montag den Festvortrag – er ist hervorragend. Zwei Zahlen stellt er an den Anfang: 540.000 und 15.000, sie beschreiben in brutaler Nüchternheit die Anzahl jüdischer Menschen in Deutschland vor und nach dem zweiten Weltkrieg.Das änderte sich erst durch den Zuzug der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch kamen ca. 100.000 jüdische Aussiedler, "diese demographische Aufforstung hat uns gerettet", so Neumann. Nur – es kamen auch neue Probleme, denn die Aussiedler waren "religiöse ABC-Schützen", was nicht ihnen anzulasten war, sondern der Herkunft aus einem Land ohne Religion. Vor dem zweiten Weltkrieg waren in Deutschland das Reformjudentum und die säkularisierten Juden tonangebend gewesen, die neuen Mitglieder der jüdischen Gemeinden aber waren überwiegend orthodox – "und konfrontierten uns so mit unseren eigenen Widersprüchen".
Unter Wasser leben lernen
Neumann schließt seine Rede mit einem Witz, der eine sowohl tröstliche als auch widerborstige Botschaft hat: Gott kündigt an, in zwei Wochen eine weitere Sintflut zu schicken. Entsetzen überall. Die Priester: rufen alle Gemeindemitglieder in die Kirchen für ein letztes Gebet. Die Imame: rufen zu einer letzten Wallfahrt nach Mekka auf. Die Rabbiner: erklären ihren Menschen, dass man genau zwei Wochen Zeit habe, um zu lernen, wie man unter Wasser lebt. Es ist eine Geisteshaltung, die berührt und anspornt.Danach wird das Buffet eröffnet, koscher, versteht sich – und wohl zum ersten Mal erlebt das Gobelin-Zimmer das Abendgebet frommer jüdischer Männer vor dem Essen. "Der Antisemitismus hat Deutschland nie verlassen", hatte Neumann in seiner Rede gesagt. Ich habe noch nie verstanden, wie man Antisemit sein kann, schon gar nicht als Christ. So nahe sind die beiden Religionen sich, so miteinander verwoben, so verwandt in ihrer Geisteshaltung. Das Judentum zu schmähen, zu verachten und zu verfolgen, das ist doch, als lege man die Axt an die eigenen Wurzeln. Es ist höchste Zeit, sich auf den spirituellen und kulturellen Reichtum zu besinnen, den das Judentum auch für uns Nicht-Juden bereithält. (Jutta Hamberger) +++