Nachfahren der Fuldaer Jüdischen Gemeinde

Tagebuch einer besonderen Woche: Sei das Licht (1)

Eine von vielen Nach-Erschütterungen an diesem Tag: Erstmal treffen sich alle Cousinen und Cousins der Sichel-Familie – an diesem Abend, in Fulda. Ganz rechts Ethan Bensinger.
Fotos: Jutta Hamberger

06.09.2023 / FULDA - Sie sind gekommen aus den USA und Canada, aus Südamerika, Israel, Schweden und einigen anderen Ländern. Einst lebten ihre Vorfahren in Fulda, dann wurden sie vertrieben und ermordet in der dunkelsten Zeit, die Deutschland jemals durchlebte. Dass sie in dieser Woche hier sind, ist eines von vielen großen und kleinen Wundern, die dank Begegnungen, Versöhnung und Brückenbauen möglich wurden.


Geschichten zwischen Rührung und Traurigkeit

1986 hatte das erste Treffen mit Nachfahren der Fuldaer Jüdischen Gemeinde stattgefunden. Damals kam die erste Generation, diejenigen, die überlebt hatten, teils mit ihren Kindern. Diesmal sind es die zweite und dritte Generation, die den Weg nach Fulda gefunden haben.

Als ich mich am sehr frühen Montagmorgen auf den Weg zum Frankfurter Flughafen mache, ist die Stadt gespenstig ruhig und neblig, im Zug sitzen nur wenige Fahrgäste. Was wird mich erwarten in diesen Tagen?

Zwei Busabholungen hatte die Stadt organisiert, zusammen mit Karin Reith-Bräunung (Stadtführerin) hatte ich die erste übernommen. Wir teilen uns auf nach Terminals, zwischen 07:20 und 09:45 sollen die Gäste ankommen. Wie das so ist – Flüge verspäten sich, Gäste haben kurzfristig umgebucht, und eine Maschine wurde wegen eines Defekts gar nach Zagreb umgeleitet. Flexibilität ist heute und hier die wichtigste Tugend. Wegen des Ukraine-Kriegs gibt es nur einen schmalen Flugkorridor von Zagreb nach Frankfurt, durch den alle Flugzeuge müssen – weitere Verspätungen. Diese Gruppe reist schließlich mit dem Zug nach Fulda weiter.

Wie gut, dass es WhatsApp gibt! Schon vor Beginn dieser Woche und erst recht an diesem hektischen Montagmorgen fliegen die Informationen nur so hin und her: Wer ist wo, wer macht was, wer braucht welche Info und Unterstützung. ""Wie hat man das eigentlich vor Handy und WhatsApp gemacht?", sinniert Anja Listmann, die ebenfalls nach Frankfurt zur Begrüßung gekommen ist. Keine Ahnung. Irgendwie. Und irgendwie sicherlich bedeutend schwieriger.

Nach-Erschütterungen

Aber irgendwann sind sie alle da und im Bus. Da sich die wenigsten kennen, machen wir eine kleine Vorstellungsrunde. Deren Elemente und Stichworte ähneln sich: Meine Mutter war… mein Vater war… und lebte in Fulda… sie wurden vertrieben… deportiert… Buchenwald… Riga... Auschwitz. Und heute lebe ich… und mache… Ich bin hier mit Mutter, Tochter, Vater, Sohn, Cousin und Cousine. Beim Zuhören frage ich mich immer wieder: Und trotzdem seid ihr gekommen? Wie schafft ihr das? Einmal mehr wird mir klar, dass alle, die mit mir hier im Bus sitzen, die viel größeren Versöhnungs- und Brückenbauschritte gemacht haben als ich, als wir Deutsche überhaupt. Ich leihe mir einen Begriff aus der Rede meines Vaters zur Grundsteinlegung des Fulda-Hauses 1975 – Nach-Erschütterung. Er hatte gesagt: "Aus dem Terror, den die NS-Gewaltherrschaft gegen die Juden ausgeübt hat, muss es für uns immer wieder eine Nach-Erschütterung geben, die uns befähigt, überzeugend "nie wieder" zu sagen und dies als Verpflichtung weiterzugeben." Diese Woche kann man auch als Erbin dieser Haltung verstehen.

Von Rodges bis zur Kol Torah

Abends beginnt im Fürstensaal die Internationale Tagung zur Jüdischen Geschichte. Mitveranstalter sind die Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen und das Wiener Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte. Als ich im Fürstensaal ankomme, laufen gerade die beiden letzten Vorträge. Ich verstehe zwar kein Hebräisch, aber die Bilder verstehe ich sehr gut: Keren Hamiel, die das Museum der orthodoxen Pionier-Bewegung in Chafetz Chaim leitet, spricht über Rodges. Hier wurden damals die zukünftige Palästina-Auswanderer auf ihre Aufgaben vorbereitet, fit gemacht für alles, was man in der Landwirtschaft wissen muss.

Danach richtet Abraham Moses von der Kol Torah in Jerusalem das Wort an die Tagungsteilnehmer/innen. Er zeigt Fotos und einen Film über die Yeshiwe Kol Torah, die 1939 u.a. von Rabbiner Baruch Kunstadt mitgegründet wurde, dem letzten Leiter der Fuldaer Rabbinatsschule. 1970 hatte der damalige Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Hamberger den Kontakt zu dessen Sohn Elchanan gesucht, und 1975 reiste auf Kunstadts Einladung hin die erste Fuldaer Delegation nach Israel. Der Grundstein für das Fulda-Haus in der Kol Torah wurde gelegt.

Sei das Licht und zünde ein Licht an

Noch bevor der Empfang losgeht, ergreift Sara Evron das Wort. Sie ist in der Kibbutz-Bewegung, deren Wurzeln auch in Rodges liegen. Ihren Namen kenne ich vom Tagungsprogramm und auch, weil wir in den vergangenen Tagen über WhatsApp von Umplanung, Anreise bis Beschaffung eines Adapters in intensivem Kontakt waren. "Wer seine Geschichte erzählt, baut eine Festung, und wer seine Vergangenheit kennt, kann die Zukunft bauen", sagt sie und weist auf die Bedeutung dieser Konferenz gerade heute hin.

"Sei das Licht und zünde ein Licht an!", ruft sie uns zu – und das berührt mich tief in einer Woche, in der ein Staatsminister einfach weitermachen kann, obwohl er mit hoher Wahrscheinlichkeit als Jugendlicher ein antisemitisches Hetzblatt verfasst hat und in seiner politischen Karriere gern am rechten, undemokratischen Rand fischt. Macht bricht Haltung, ein widerliches Schauspiel. Ja, umso wichtiger ist diese Tagung.

David Harel, auch er Tagungsteilnehmer, fragt mich, wie es mit dem Erinnern denn weitergehen werde, wenn die letzten Zeitzeugen tot seien. "Zum Beispiel mit dieser Tagung", antworte ich ihm. Ein "nie wieder" an Gedenktagen reicht nicht. Die jüdische Geschichte Deutschlands ist Teil unserer Identität. Unserer deutschen Identität. Es ist eine Frage von Haltung, Empathie und Intellekt, sich das so klarzumachen. (Jutta Hamberger) +++

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