Radsportler Johannes Schäfer

Erfahrungen beim "Ötzi": Auf Augenhöhe mit der Spitze, über Hitze und Krämpfe

Wundervolle Bergwelt, Johannes Schäfer vornweg
Fotos: privat

31.07.2023 / SÖLDEN/LAUTERBACH - Erfahrungen zu sammeln, das ist das A und O in der Laufbahn eines Sportlers. Sie sind oft wichtiger als Erfolge oder vordere Platzierungen, die zwar schneller die Tür öffnen zu Auszeichnungen, Glamour oder dazu, auf kurzem Wege berühmt zu werden. Erfahrungen indessen bringen einen eher oder auch mehr voran, als man dies denkt. So mag sich auch der Lauterbacher Johannes Schäfer gefühlt haben, als er kürzlich den "Ötztaler" - die inoffizielle Weltmeisterschaft im Radmarathon - bestritt. OSTHESSEN|NEWS ließ er an seiner Gefühlswelt teilhaben. 

Erkenntnis eins: Lange fuhr der 26-Jährige im Spitzenfeld mit den Top-Fahrern mit - er bewegte sich auf Augenhöhe. Es war die sportlich wichtigste Erfahrung im 227 Kilometer langen Rennen, das über vier Alpenpässe (Kühtai, Brenner, Jaufenpass, Timmelsjoch) und 5.500 Höhenmeter führt - in Sölden beginnt und auch dort endet. Erkenntnis zwei: das Spielen mit der Renn-Einteilung. Der Lauterbacher entschied sich zwischenzeitlich dafür, das hohe Tempo, das er zuvor bewusst gewählt hatte, herauszunehmen. Erkenntnis drei: der Kampf gegen die extreme Hitze und gegen Krämpfe. Am Ende aber stand der Lohn: ansprechend angekommen zu sein. In einer Zeit, die ihn zufriedenstellte und die er sich für dieses Jahr kaum besser hätte ausmalen können.


Drei Ziele begleiteten Schäfer auf seinem Weg von Tirol nach Südtirol - und wieder zurück. Erstens: mit seinem neuen Team konkurrenzfähig zu sein und aufs Podium zu kommen. Letztes Jahr sprang mit alpecin Rang drei heraus - dieses Mal lief es mit VeloLease-MaskMediCare noch besser. "Wir sind das zweitbeste Team geworden", jubelte der Lauterbacher. Zweitens: Catherine Roßmann, die Johannes für sein neues Team gewinnen konnte, sollte ihren Vorjahressieg bei den Frauen wiederholen. Das gelang mit Rang drei nicht ganz - war aber als Erfolg zu bewerten. Drittens: sein eigener Auftritt. "Dieser Ötzi war für mich relativ entspannt. Ich wollte sehen, wie die Zusammenarbeit mit meinem neuen Trainer Fabian Dobner angeschlagen hat. Wie weit ich bin, um vorne mitfahren zu können." Als "Probe-Ötzi" etikettiert er sein Unternehmen in den Alpen. Als kleinen Test. Oder als Briefing.

Mit der Spitze auf du und du - mit den Top-Fahrern auf Augenhöhe

Der 26-Jährige bezeichnet es als "kleines Experiment", hoch oben auf dem Kühtaisattel - in 2.107 Meter Höhe - noch dabei zu ein. Mitfahren zu können mit den Besten. "Da geht's los", weiß Johannes, "bis dorthin, dem ersten Berg des Ötztalers, starten die Fahrer mit hohem Tempo durch". Der Lauterbacher wollte schauen, ob ihm dies gelingt. Er wollte sich darauf einlassen und stellte sich die Frage: "Bin ich bereit, da an und in der Spitze mitzufahren - oder scheiterst du da schon?" Mit einer Mischung aus Freude, Genugtuung und Selbstwert erkannte er: "Ich hab's geschafft, da mitzufahren. Es gab keinen, der mir davongefahren ist. Auch wenn es ein leidvoller Aufstieg war. Aber man freut sich, wenn die Spitzenleute nicht an dir vorbeischießen." 

Es war ein gutes Gefühl, das der Lauterbacher spürte. "Ich musste nicht hochschauen, mich nicht umschauen. Ich war vorne bei den Favoriten und bin da mitgefahren." Er habe einen von ihnen vor sich gehabt, einen hinter sich, links von ihm, rechts von ihm ...". Und Johannes war mittendrin. "Sie waren um mich herum", sagte er treffend. 

Spezielle Anekdote: Schäfer bot dem späteren Drittplatzierten Hilfe an

Vom Kühtai zum Brenner, vom ersten Alpenpass zum zweiten. Der Brenner sei bekannt dafür, dass man sich eher ausruht, sagt Schäfer - sofern auch Dritte das Etikett benutzen dürfen. Es gehe darum, viel zu essen, zu trinken, sich zu verpflegen und zu entspannen. Es gab zwar einige Attacken am Brenner, "aber da passiert nicht viel", weiß Schäfer.

Eine spezielle Anekdote kramte der 26-Jährige zudem hervor. Er schob Johnny Hoogerland, den Sieger des Ötztalers von vor zwei Jahren, an. Dem war die Kette heruntergefallen. Es sei gang und gäbe, dass man sich gewissermaßen hilft und sich auf diese Weise unterstützt, sagte Schäfer. Seine Hilfe lohnte sich offenbar, Hoogerland wurde am Ende Dritter.

Eigener Rhythmus, Tempo raus - extreme Hitze macht zu schaffen

"Ab dem Jaufenpass habe ich mich entschieden, meinen eigenen Rhythmus, mein Tempo zu fahren - und mich zurückfallen lassen", gibt er sein weiteres intuitives Vorgehen preis. Natürlich wäre es spannend gewesen, zu spüren, wie er sich weiterhin der Spitze gehalten hätte, doch Johannes sagt noch Tage danach: "In diesem Moment war es die richtige Entscheidung." Vielleicht, so bekennt er, hätte er es auch anders machen können, "aber man wusste ja nicht, was hinten heraus passiert". Der Lauterbacher übte sich in Bescheidenheit. Er sagte sich, "mit meinen begrenzten Möglichkeiten wollte er das Optimale herausholen". 

Dann passierte das nicht Berechenbare. Die Hitze machte den Fahrern zu schaffen. Eine extreme Hitze. Plötzlich waren die Höhen-Anpassung und die Hitze vorherrschende Themen. Doch Johannes biss sich durch. Auf der Abfahrt nach St. Leonhard hinunter - bis es rauf ins Timmelsjoch geht. "Als es da reinging, hab' ich zum ersten Mal gehört, welche Hitze wir hatten."

Es waren mehr als 40 Grad. "So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich hatte so einen Respekt vor der Hitze. Respekt vor einem Hitzeschlag." Er sei so gefahren, dass er mit der Hitze gut auskam. Eine wichtige Erfahrung für ihn. Eine Schraube, wie man so sagt, an der man künftig drehen kann.

Krämpfe kamen hinzu - "wir bekamen viel Wasser gereicht"

Doch: das Abenteuer "Ötzi" war noch nicht beendet. Die Probleme wurden nicht eben geringer. "Auf der Hälfte des Berges fingen Krämpfe an, sich bemerkbar zu machen - obwohl ich viel getrunken hatte. Sie waren so stark, dass ich absteigen musste." Insgesamt viermal.  "Es ging einfach nicht." Jeder Sportler spürt dann: Die Moral sinkt. Krämpfe zu kriegen, das aber ist menschlich. Die Fahrer bekamen viel Wasser gereicht. Zum Glück. Und Johannes biss sich durch. Er hatte ja ein Ziel.

Zehn Kilometer vor der Zielankunft hörten die Krämpfe auf. Endlich. "Oben ist es eh kühler. Etwa auf 2.500 Metern Höhe. Ich konnte krampflos weiterfahren." Zwei Kilometer waren es noch bis zur Mautstation, dem höchsten Punkt am Timmelsjoch." Ein gehöriger Schuss Freude kam hinzu, als plötzlich ein Teamkollege von Johannes auftauchte. "Wir sind zusammen nach Sölden hinuntergefahren. Und kamen nach sieben Stunden und 34 Minuten ins Ziel. Mit Platz 60." 

"Hätte ich die Krämpfe nicht gehabt" ... - Die Sehnsucht nach einem kühlen Bier

Der Lauterbacher bewertete das für sich so. "Ich hatte mir eine Traumzeit gesetzt. 7:30 oder 7:40. Hätte ich die Krämpfe nicht gehabt ..." Im Handumdrehen aber fügte er hinzu: "Aber ich will den Krämpfen nicht hinterher heulen." Typisch Johannes. Was ihm half auf dem langen Weg: "Ich hab' mir ein kühles Bier vorgestellt. Ich hatte lange keinen Alkohol mehr getrunken." Im Ziel angekommen, gönnte er sich eins, "das hat mir gutgetan".

Die Erfahrung, länger mit der Spitze mithalten zu können, wollte er nicht missen. Und er wird etwas los, das wohl in der Weltspitze der Sportler - und der Radsportler im Besonderen - verborgen ist. "Der Eine", sagt er, "kann das Leid länger aushalten als der Andere. Wenn du es schaffst, nicht im Leid zu ertrinken, sondern das Leid auf den Rücken zu schnallen ... Man muss sich mit dem Leid anfreunden oder verbünden. Obwohl es ein Teufel ist." Das lassen wir so stehen.

Wie eine Königsetappe bei der Tour de France - Ziel sind die Top Ten

Auch zu einer Einordnung des Ganzen lässt er sich noch hinreißen. "Was wir da fahren, ist wie eine Königsetappe der Tour de France. Von der Schwierigkeit her. Der Länge." Nicht umsonst ist "der Ötztaler" die inoffizielle WM der Radmarathon-Szene. "Es ist die Crème de la crème, die da fährt."

Und Johannes Schäfer ist noch nicht am Ende. "Mein Ziel ist es, beim Ötzi mal in die Top Ten zu fahren." Jetzt weiß er, dass er sich dies zutrauen kann. Dass er es drauf hat. Dass es drin ist. "Vielleicht schaffe ich es ja noch, bis ich 30 bin. Ich habe noch drei Jahre Zeit." Er weiß, woran er noch arbeiten muss. Urteilt aber postwendend: "Wenn ich merke, ich erreiche das nicht mehr, arbeite ich trotzdem weiter. Auch Top 20 wäre ein toller Erfolg." Das sei mit viel Arbeit und Fleiß realistisch. OSTHESSEN|NEWS wünscht auf dem Weg dorthin das Beste. (wk) +++
















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