Experten-Gespräch

Fake-News und Verschwörungstheorien erhöhen jugendliche Gewaltbereitschaft

Gewalt und Mobbing bei Kindern und Jugendlichen: Ein Expertengespräch.
Fotos: HJK / Pixabay

10.04.2023 / FULDA - Gewalt unter Kindern scheint neue Formen anzunehmen. Streitigkeiten und Prügeleien gab es schon immer, doch beispielsweise (Cyber-)Mobbing unter Gleichaltrigen ist ein gesellschaftliches Problem, das in den letzten Jahren immer häufiger vorzukommen scheint. Der Fall der getöteten zwölf Jahre alten Luise aus Freudenberg oder des elfjährigen Mädchens aus Wunsiedel sind aktuelle und extreme Fälle von Gewalt, bei der Kinder beteiligt waren.



OSTHESSEN|NEWS hat beim Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Herz-Jesu-Krankenhauses in Fulda, Priv.-Doz. Dr. med. Frank Theisen, und den Leitenden Psychotherapeuten, Dipl.-Psychol. Dr. phil. Oliver Nass, nachgefragt. Wie hat sich Gewalt unter Kindern und Jugendlichen entwickelt und vor allem: Was kann Kindern und Eltern helfen, wenn sie bemerken, dass etwas im Argen liegt?


O|N: Beobachten Sie in den letzten Jahren eine erhöhte Bereitschaft von Kindern und Jugendlichen zu Gewalt? Ist es eher physische oder psychische Gewalt?

Theisen: Wir haben in der Klinik in den letzten Jahren keine signifikante Zunahme von Gewalt bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Natürlich gibt es immer wieder Einzelfälle, die sich phasenweise von der Regel abheben. Zur physischen Gewalt zählt ja auch eine Eigen-Aggression, die mitunter in Fremd-Aggression umschlagen kann bei einer notwendigen Intervention, also einem notwendigen Eingreifen. Zum Beispiel kann es sein, dass Patienten sich selbst schädigen und beim Versuch, sie daran zu hindern, fremdaggressiv auf das Personal reagieren. Werden Kinder oder Jugendliche notfallmäßig z.B. mit Polizei und/oder Rettungsdienst gebracht, so hat sich bei der Ankunft in die Klinik die Situation fast ausnahmslos beruhigt und wir können konstruktiv das weitere besprechen. Häufig kommt es dann auch nicht zu einer stationären Aufnahme.

O|N: Welchen Einfluss haben soziale Medien wie Tik-Tok, Snapchat oder Instagram auf das Seelenleben von Kindern und Jugendlichen? Gibt es da negative und/oder positive Aspekte?

Nass: Generell ist die Bandbreite der Einflüsse groß, zum Großteil ist der Unterhaltungsaspekt im Vordergrund sowie der soziale Austausch mit Gleichaltrigen. Beides ist dem positiven Spektrum zuzuordnen. Negative Aspekte gibt es hingegen in diesem Bereich bei den sogenannten "Challenges" (also Herausforderungen mit z.T. gefährlichen Aufgabenstellungen) aber auch im Bereich der stoffungebundenen Süchte bei deutlich erhöhtem Konsum sowohl von TikTok-Videos als auch dem Beschäftigen mit Instagram-Profilen sowie der eigenen sozialen Darstellung. Ferner ist auch eine Form von "Cybermobbing" als negative Interaktionsform zu erwähnen.

O|N: Was raten Sie Eltern/Erziehungsberechtigten, denen ein verändertes Verhalten Ihrer Kinder auffällt? Zum Ersten: Kinder, die Opfer von Mobbing werden, zum Zweiten: Kinder, die mobben und/oder durch körperliche Gewalt auffallen?

Theisen: Zum Opfer: Über Mobbingerfahrung zu berichten ist nicht selten schambesetzt, entsprechend werden Sprüche wie "Du Opfer" als Beleidigung benutzt. Weil Mobbing länger unerkannt bleiben kann, empfiehlt es sich, das Thema zu Hause aktiv aufzugreifen. Erst einmal allgemein, z.B. ob es das an der Schule überhaupt gibt, ob das schon mal oder öfter beobachtet wurde und dann individuell, ob es selbst erlebt wurde. Je nach Ausmaß des Problems müssen dann Klärungen erfolgen, mit den Tätern, deren Eltern, der Schule, z.B. über den Vertrauenslehrer. Das Ausmaß des Mobbings und der Gegenwehr reicht bis zu einer polizeilichen Anzeige mit dem Signal einer strafrechtlichen Verfolgung.

Zu den Tätern: Auch dies wird den Eltern nicht selten verborgen bleiben bzw. verheimlicht. Werden die Eltern mit entsprechenden Vorwürfen über das Verhalten ihrer Kinder konfrontiert, müssen ebenfalls die o.g. Klärungen erfolgen. Dies schließt die Aspekte der sozialen Konsequenzen sowie einer möglichen polizeilichen Anzeige mit ein. Auch eine Erziehungs-Beratungsstelle kann Hilfestellungen geben.

O|N: Worauf sollten Eltern/Erziehungsberechtigte sowie KiTa- und Schulpersonal achten, um erste Anzeichen von Gewalt unter Kindern und Jugendlichen zu erkennen? Und was sollten sie dann tun?

Nass: Mittlerweile sind gerade Fachkräfte in den Kitas aber auch in den Schulen gut geschult, um auch deviantes also abweichendes Verhalten frühzeitig zu erkennen, dies den Erziehungsberechtigten rückzumelden und entsprechend zu beraten. In Kooperation mit weiteren Stellen (z.B. Erziehungsberatung, Schulpsychologischer Dienst) kann das Verhalten durch Hilfe bis hin zur therapeutischen Interventionen aufgegriffen werden.

O|N: Welche Folgen kann Gewalt auf Kinder/Jugendliche haben und wie behandeln Sie Kinder, die Opfer von Gewalt wurden?

Theisen: Im klinischen Bereich sind vielfältige Folgen möglich, die sich ganz unterschiedlich äußern können, z.B. von einer sogenannten Anpassungsstörung bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Flashbacks. Eine Therapie ist in der Regel hochgradig individuell und bezogen auf das zugrundeliegende Trauma. Während es zunächst um das Beenden von Übergriffen und eine Wiederherstellung von Sicherheit geht, nähert man sich im Rahmen der Therapie immer mehr konkret den Ursachen sowie dem Geschehen. Vereinfacht gesagt, befasst man sich in der Aufarbeitung aktiv mit dem Vorgefallenen, sodass es mit der Zeit seinen Schrecken verliert.

O|N: Wie behandeln Sie Kinder/Jugendliche, die gewalttätig wurden?

Theisen: Zunächst einmal ist es wichtig, die genaueren als auch individuellen Ursachen herauszufinden. Handelt es sich mehr um eine reaktive Aggression z.B. sich wehren nach Anstauen einer Wut durch Mobbing, oder eine proaktive Aggression wie um Macht zu erlangen oder andere auszubeuten? Entsprechend sind natürlich die Behandlungsansätze völlig verschieden. Dennoch werden in der Aufarbeitung stets Schwachpunkte identifiziert beispielsweise ungünstige Situationen, Überforderung, Temperament, niedrige Frustrationstoleranz, um alternative Verhaltensmöglichkeiten zu erarbeiten. Grundsätzlich wichtig ist die Erfahrung für die Kinder, dass ihr Verhalten Konsequenzen nach sich zieht insbesondere auch positive Konsequenzen z.B. Belohnungen für sozial erwünschtes Verhalten.

O|N: Ist das Bewusstsein von jungen Menschen gesunken, Gewalt tatsächlich zu erkennen (durch Filme, Videospiele etc.)?

Nass: Aktuell ist tatsächlich eine reduzierte Hemmung, Gewalt anzuwenden, zu beobachten. Dies ist aber nicht nur durch mediale Ereignisse, sondern auch vorwiegend durch gesellschaftliche Umbrüche und Auseinandersetzung mit zum Teil hohem Gewaltpotenzial zurückzuführen. Viel entscheidender als Film oder Videospiele für das Bewusstsein sind mediale Einflüsse durch Fake-News und Verschwörungstheorien sowie eine Radikalisierung mit religiösem oder quasi-religiösem Hintergrund.

O|N: Wie entsteht eigentlich eine erhöhte Gewaltbereitschaft bei Kindern? Ist das ein Erziehungsproblem?

Theisen: Neben einer genetischen Komponente spielen Umweltfaktoren eine Rolle wie Erziehung, aber auch Rollenvorbilder und Einfluss der Peer Group. Wir beobachten in diesem Zusammenhang nicht selten Kinder mit einem Temperament gekennzeichnet durch erhöhte Impulsivität, Regellosigkeit und Risikobereitschaft bzw. geringe Schadensvermeidung. Andere zeigen erhöhtes Neugierverhalten und eine gewisse Empathielosigkeit. Schließlich kann Gruppendynamik das Ausmaß an Gewalt beeinflussen durch Wechselwirkungen, wie gegenseitige Herausforderungen, Provokationen, drohender Ansehensverlust in der Peer Group. Daher spielt die Vermittlung von Werten nicht nur in der Erziehung, sondern auch in Schule und Gesellschaft eine große Rolle. (cdg) +++

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