Gegenwartstheater im Schlosstheater

Musikalische Wiedervereinigung bei "Alles Lüge"

Es geht nicht ohne Kämpfe ab in dieser Ost-West-Familiengeschichte zu Musik von Gerhard Gundermann und Rio Reiser. Die Idee dazu stammt von Roman Majewski, der auch den Sandro spielt.
Alle Fotos: Martin Engel

03.02.2023 / FULDA - Am Ende singen sie "Junimond". "Jetzt tut’s nicht mehr weh" und "Es ist vorbei", und man fragt sich, was ist vorbei? Der Bruderzwist? Ossis und Wessis? Die Wiedervereinigung? Die zwei Deutschlands? Mit diesen Fragen ging heute wohl jeder nachhause, der den mitreißenden Abend des Deutschen Theaters Göttingen erlebt hatte.



25 Jahre nach der Wende treffen sie sich auf Omas Beerdigung – Sandro, der schwule Enkel, Thommy, der arbeitslose Ex-Baggerfahrer, Paula, Thommys Ex-Freundin und Dennis, Sandros Freund, der zwischenzeitlich auf Hetero-Abwegen war. Im Schmerz über den Tod einer Frau, die viel erlebt und alles zusammengehalten hat, finden sie sich wieder. Jetzt schließen sie ihren Frieden mit den Nachwendejahren: Sandro, der sich in den Westen aufmachte und sein Ding durchzog. Paula, die ihren dauertrinkenden und -jammernden Thommy gegen eine Karriere im Westen eintauschte. Dennis, der sich die Hörner abgestoßen hat und zurückkehrt zu seinem Sandro. Und Thommy, der endlich versteht: Wenn man sein Leben zurückhaben will, muss man schon aufstehen und es sich holen. Das ist so schön, dass sogar Oma aufersteht und "Junimond" mitsingt.

Familiengeschichte zwischen Ost und West

Davor liegen 100 Minuten Familiengeschichte und eine Reise durch östliches und westliches Lebensgefühl. Die Musik der 80er Jahre, wie sie in Ost oder West gespielt wurde. Und die Beschäftigung mit der Frage, was aus den versprochenen blühenden Landschaften geworden ist. Das wird in einem Wohnzimmer in Szene gesetzt, vor einem Prospekt, auf dem sich ein Braunkohlerevier erstreckt. Der Prospekt – auch eine Art Mauer, hinter der die Band sitzt – fällt sukzessive, Theater-Symbolismus. Die Spiel-Szenen zwischen den Songs sind für sich genommen der schwächste Teil des Abends, hier wird zuviel gewollt, im Grunde werden aber nur die Songs ausbuchstabiert. Konnte man aber rasch vergessen, denn die Songs sind stark und werden stark dargeboten.

Gerhard Gundermann, der singende Baggerfahrer aus dem Lausitzer Braunkohlerevier, war im Osten als Liedermacher sehr populär – im Westen kennt ihn bis heute kaum niemand. Der Abend bot die Chance, das zu ändern. Das ist ein Singer-Songwriter zum Entdecken! Rio Reiser hingegen kennt jeder. Seine Lieder und die seiner Band Ton, Steine, Scherben sind extrem gut gealtert und frisch wie eh und je. Der Titel des Abends bezieht sich jeweils auf einen Song dieser beiden viel zu jung und viel zu früh verstorbenen Musiker, die sich nie begegnet sind.

Genialer musikalischer roter Faden

Man muss Roman Majewski, der auch als Sandro auf der Bühne steht, unglaublich dankbar sein für seine geniale Idee, eine deutsch-deutsche Geschichte mit den Liedern jener Jahre zu erzählen. Das gelingt grandios. Gundermanns Lieder sind melancholischer, sie sind nachdenklich und poetisch. Reisers Lieder sind wilder, sie sind kraftstrotzend und rotzig - können aber auch sehr zärtlich sein. Das ergibt eine berückende Kombi, man kann sich gar nicht satthören.

Gundermanns Texte haben eine ganz eigene, stille Kraft und sind immer wieder eine Selbstvergewisserung, etwa in "Hier bin ich geboren": "Hier bin ich geboren, wo die Kühe mager sind wie das Glück, hier hab‘ ich meine Liebe verloren und hier krieg‘ ich sie wieder zurück." In seinen Liedern geht es oft darum, nicht den Hauptgewinn gezogen zu haben, aber doch kapiert zu haben, wie man glücklich ist. Weil das nicht vom Gewinn, sondern von der eigenen Haltung abhängt.

Reisers Songs sind auch Agit-Rock, am deutlichsten in "Mach kaputt was euch kaputt macht", immer wieder aber auch voller Hoffnungslust auf die Zukunft. "Wer wird die neue Welt bau‘n wenn nicht du und ich", heißt es in "Schritt für Schritt ins Paradies", und: "Uns trennt nichts vom Paradies außer unserer Angst". Klar, dass auch der "König von Deutschland" erklingt – zur Millenniums-Wende und in einer Kölner Transenbar schön verfremdet.

"Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird" – mit dieser Zeile aus einem Reiser-Song endet der Abend mit Hoffnung, Optimismus und Selbstbewusstsein. Nicht mehr west- oder ostdeutsch, sondern wir-deutsch.

Jenny Weichert als Paula, Roman Majewski als Sandro, Volker Muthmann als Thommy und Moritz Schulze als Dennis rockten die Bühne, großartig unterstützt von Michael Frei (Gitarre), Hans Kaul (Keyboard), Sven von Samson (Drums) und Rolf Denecke (Bass). Mit Standing Ovations bedankte sich das begeisterte Fuldaer Publikum beim Göttinger Ensemble. (Jutta Hamberger) +++

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