"Bad Hersfeld liest ein Buch"
Zum Abschluss: "Das Beste, was einer Schriftstellerin passieren kann"
Die Autorin Kirsten Boie bei der Abschlussveranstaltung zu "Bad Hersfeld liest ein Buch"
Fotos: Christopher Göbel
03.12.2022 / BAD HERSFELD -
Drei Wochen lang war Bad Hersfeld wieder eine Lesestadt - in diesem Jahr zum 21. Mal. Im Mittelpunkt stand "Heul doch nicht, du lebst ja noch" der Hamburger Autorin Kirsten Boie. Zur Abschlussveranstaltung war die Schriftstellerin nach Bad Hersfeld gekommen und plauderte mit Moderator Kai A. Struthoff (Hersfelder Zeitung) in der Stadthalle über das Buch, das Schreiben und das Leben als Autorin. Viele weitere Akteure gestalteten den Abend mit.
Mit dem Soldatenlied "Lilli Marleen" und dem Friedenslied "Sag mir, wo die Blumen sind" stimmte der Chor der Modell- und der Gesamtschule Obersberg unter der Leitung von Ulli Meiß mit Anne Rill am Klavier auf die Abschlussveranstaltung ein. "In der jetzigen Zeit ist es äußerst wichtig, insbesondere Kinder und Jugendliche dafür zu sensibilisieren, was Menschen im Krieg erlebt haben und wie ein Krieg das eigene Wesen und Leben verändern kann", sagte Erster Stadtrat Gunther Grimm.
Eine Zeit, die sie nicht selbst erlebte
In "Heul doch nicht, du lebst ja noch" beschreibt Kirsten Boie die Zeit direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges anhand der Geschichten der drei Jugendlichen Traute, Hermann und Jakob. Boie, Jahrgang 1950, hat diese Zeit nicht selbst erlebt. "Der Zweite Weltkrieg war jedoch sehr präsent in meiner Familie", so die Autorin im Gespräch mit Kai A. Struthoff. "Die Menschen redeten allerdings eher davon, was sie erlitten haben. Als Kind erfuhr ich nichts vom Holocaust oder von den Kriegsverbrechen der Deutschen."
Um diese eigenen Erfahrungen aufzuarbeiten, habe sie vor zwei Jahren dieses Buch geschrieben. "Alle Handelnden sind fiktiv", sagte sie. Sei selbst habe als Kind in den Trümmern Hamburgs gespielt und aufgrund des 75. Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus in 2020 sei ihr die Idee zu ihrer Geschichte gekommen. "Ich habe viel recherchiert, unter anderem im ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme." Traurige Aktualität habe ihr Buch nun durch den Krieg in der Ukraine erhalten: "Auch dort leiden und frieren Menschen jetzt."
Eigene Ideen zu den jugendlichen Protagonisten
Eine Schülergruppe der Gesamtschule Geistal hatte sich mit der Schwarzmarkt-Szene des Buches beschäftigt. Dir dort vorkommenden, teilweise nur in einem Nebensatz erwähnten Figuren hatten sie zur Grundlage für eigene Texte genommen, um deren Situation weiterzudenken. Dazu mussten sie sich mit einer Situation beschäftigen, die sie so selbst nie erlebt haben. Ebenso eindrucksvoll war die Präsentation von Schülerinnen der Klasse G10d der Gesamtschule Obersberg: Sie hatten sich Gedanken darüber gemacht, wie es den Protagonisten nach zehn Jahren ergehen würde.
Nach ihrer Lesung der ersten Kapitel des Buches sprach Boie mit dem Moderator über das Schreiben. "Es ist ein Unterschied, ob man für Kinder oder Jugendliche und Erwachsene schreibt", so Boie. Ihre Ideen kämen entweder aus ihrem eigenen Lebensumfeld, aber auch "einfach so". "Wenn ich eine Idee habe, dann notiere ich mir das nicht sofort, beispielsweise an einer roten Ampel. Was es wert ist, geschrieben zu werden, das wird bleiben", sagte sie. Schreiben habe in erster Linie mit Disziplin zu tun, erst dann mit Talent. Sie nutzt den Computer und schreibt nicht, wie manche anderen Autoren, mit Stift auf Papier. "Erstens kann das, was ich mit der Hand schreibe, keiner lesen. Und zweitens müsste ich das dann ja alles abtippen", scherzte die Schriftstellerin. Ihr Mann war oft der Erste, der ihre Texte zu lesen bekam. "Der war Deutschlehrer. Das war gut, aber nicht immer schön", so Boie schmunzelnd. Mehr als 100 Bücher hat die Hamburgerin bereits veröffentlicht.
Auch wenn sich zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Bad Hersfelder Gesamtschulen in den vergangenen drei Wochen intensiv mit Traute, Jakob und Hermann beschäftigt haben, wird Boie keine Fortsetzung der Geschichte schreiben. "Ein Buch ist für mich abgeschlossen, auch wenn das Ende offen ist." Sie begleite ihre Protagonisten bis zur letzten Seite, aber nicht darüber hinaus. Kirsten Boie zeigte sich aber erfreut über die Zukunftsvisionen, welche die Schülerinnen an diesem Abend präsentiert hatten. "Es freut mich sehr, was hier in Bad Hersfeld mit dem Buch gemacht wurde", so Boie. "Dass eine ganze Stadt ein Buch liest, ist das Beste, was einem Schriftsteller passieren kann." Sie gab auch einen kurzen Ausblick auf ihre neuen Projekte.
Mit "Wenn ich mir was wünschen dürfte" von Marlene Dietrich, "Irgendwo auf der Welt" von den "Comedian Harmonists" und "He ain't heavy, he's my brother" von "The Hollies" gestalteten Daniela Schönberg und Sebastian Rückert (Gesang), Olaf Wald (Violine) und Udo Diegel (Klavier) den Abend in der Stadthalle mit. Das letztgenannte Lied stammt zwar nicht aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber es hatte ebenso einen Bezug zum Roman: So wie der Sänger des Liedtextes seinen Bruder eine lange, kurvige Straße ohne Wiederkehr trägt, muss Hermann im Buch seinen Vater, der im Krieg beide Beine verlor, durchs Leben tragen.
Vorschläge für 2023 einreichen
Dr. Thomas Handke, der Initiator der Aktion "Bad Hersfeld liest ein Buch" und Vorsitzender der Auswahljury, dankte allen Mitwirkenden, Lesepatinnen und -paten, den Sponsoren und der Stadt Bad Hersfeld. Bereits jetzt können Vorschläge für das kommende Jahr eingereicht werden. Laut Handke waren rund 1.000 Menschen als Akteure oder Zuschauer in diesem Jahr beteiligt. (Christopher Göbel) +++
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