Im Schlosstheater

Gesunkene Dekadenz: Thomas Manns "Zauberberg" in der Impfgesellschaft

Mynheer Peeperkorn (links) mit dem seltsam ältlichen Hans Castorp
Fotos: Bohumil Kostoryz

03.12.2022 / FULDA - Thomas Manns Epochenroman "Der Zauberberg" macht ein Lungensanatorium in Davos zum Schauplatz des Verfalls kultureller Werte. In der Bühnenfassung von Florian Hirsch, die am Donnerstag im Fuldaer Schlosstheater ihre Aufführung fand, wird die Meta-Ebene wegrasiert - Unsagbares gibt es nicht mehr.



1912 besucht Mann seine lungenkranke Ehefrau in der noblen Lungenheilstätte hoch oben auf dem Berg und wäre von den geschäftstüchtigen Medizinern vor Ort beinahe selbst vergattert worden zur Kur - auf knapp 1.000 Seiten verarbeitet der Schriftsteller diese Erfahrung und bringt dabei Dekadenz des Großbürgertums und Schwindsucht kultureller Werte angesichts des nahen Todes zusammen, kunstvoll verwoben in richtungsweisender Leitmotivik und Polyphonie, kulminierend in der fiebertraumgleichen "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", dem Ersten Weltkrieg.



1928 wird der erste Tuberkulose-Impfstoff entwickelt, die Anzahl der Lungenheilstätten geht über die Jahrzehnte zurück, viele werden zu Reha-Kliniken umgewandelt. Tabakrauch, Asbest und später Feinstaub setzen nun den Lungen zu, sind aber als Risiken bekannt und nicht zuletzt für Gutbetuchte vermeidbar - Hanglage hilft. Bis zur SARS-CoV-2-Pandemie, die alle wieder gleichgemacht hat: Ob Kassierer oder Millionär, alle fiebern der Entwicklung des Impfstoffs entgegen, bis dahin nimmt das im Roman karikierte Schopenhauersche "Primat des Willens" im Meta-Narrativ teils ebensolche Züge an.

Flattening the curve

In genau diese Stimmung setzt Hirsch mit seinem Ensemble des Théâtre National du Luxembourg die Bühnenfassung: Das mondäne Sanatorium schnurrt zusammen zum minimalistischen Bühnenbild, das mit seinen Séparées schaffenden Vorhängen an ein Impfzentrum erinnert, Desinfektionssäule inklusive. Waren die Romanfiguren ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entflohen und wurden im Sanatorium vom zynischen Hofrat mit damals modernstem medizinischem Gerät totkuriert, bis es mit ihnen wortwörtlich den Berg abging, sehen sich die Schauspieler dem Publikum gegenüber exponiert - und das kennt keine Gnade, aus Gründen:



Während im Roman der Erzähler zugunsten einer Vielstimmigkeit des Narrativs zurücktritt, wird in der Bühnenfassung Lodovico Settembrini, wohlmeinender Aufklärer und Mentor des naiven Protagonisten Hans Castorp, zum zynischen allwissenden Erzähler, ohne jesuitischen Gegenspieler. Was bleibt, ist die Überform: Zwischen Tragikomödie und Farce oszilliert die Selbstoffenbarung des Mediums der Authentizität über zwei Stunden - das Uneigentliche, das Unsagbare geht im grellen Scheinwerferlicht verloren, wer hätte es gedacht. (Marius Auth) +++

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