Die Zeitzeugen werden immer weniger

"Haltung zeigen": 200 Bürger gedenken der Reichspogromnacht vor 84 Jahren

Etwa 200 Menschen versammelten sich am Mittwochabend Am Stockhaus
Alle Fotos: Martin Engel

10.11.2022 / FULDA - Es ist ein guter Brauch, jedes Jahr am Abend des 9. November mit einer Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht 1938 zu erinnern, in der überall in Deutschland die Synagogen brannten. Auch am Mittwoch versammelten sich wieder etwa 200 Bürgerinnen und Bürger in der Straße Am Stockhaus in der Fuldaer Innenstadt. Geladen hatte die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Fulda mit ihrem Vorsitzenden Wolfgang Hengstler, der auch Gäste aus Israel und den USA begrüßen durfte.



Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld sagte, dass das Erinnern an diese verhängnisvolle Nacht vor 84 Jahren immer bedeutsamer werde. "1.300 Mitglieder hatte die jüdische Gemeinde damals in Fulda und wurde in den Folgejahren komplett ausgelöscht", so der OB. "Und die Zeitzeugen werden von Jahr zu Jahr weniger."

Kleiner Seitenhieb in der Dr.-Danzebrink-Debatte

Wingenfeld erinnerte daran, dass es nicht nur stramme Nazis waren, die sich damals schuldig gemacht hätten. "Auch die Verantwortlichen der Stadt haben zugesehen und die Brandstiftung nicht verhindert." - was als verdeckter Seitenhieb gegen seine Kritiker in der aktuellen Dr.-Danzebrink-Debatte interpretiert werden könnte. Zur Erinnerung: Dr. Franz Danzebrink war im Dritten Reich Oberbürgermeister der Stadt und die Straße, die seinen Namen trägt, soll nun in Amöneburgstraße umbenannt werden. Zu unwichtig, zu teuer und warum ausgerechnet Amöneburg? - so die Gegner.

Der OB wies auf jüngste Zahlen des BKA hin, wonach allein schon in diesem Jahr 1.555 antisemitische Straftaten begangen worden sind, und er sagte: "Jeder Einzelne ist aufgerufen, Haltung zu zeigen und den Beweis anzutreten, dass es möglich ist, aus der Geschichte zu lernen."

Nächstes Jahr großes Treffen zur Landesgartenschau in Fulda

Wingenfeld kündigte an, dass es im kommenden Jahr zur Landesgartenschau ein großes Treffen ehemaliger Fuldaer Juden und deren Nachkommen in Fulda geben wird, und versprach, dass die Stadt den Platz, an dem früher die Synagoge stand, zu einem würdigen Begegnungs- und Erinnerungsort gestalten wird. Vorher sollen noch archäologische Untersuchungen durchgeführt werden.

Für die Kirchen sprachen und beteten Bischof Dr. Michael Gerber und Pfarrerin Anke Mölleken. Weitere Beiträge kamen von Ceren Cagan, einer ehemaligen Schülerin der Konrad-Adenauer-Schule, die von einem selbstgedrehten Film über jüdisches Leben in Fulda berichtete, von drei Mitgliedern der evangelischen Hochschulgemeinde sowie Iman Zafir Ahmad aus Hanau für die Ahmadiyya-Gemeinde. Jana Tegel, Berta Selejmahov (beide Gesang) und Dr. Friedhelm Röder an der Barockflöte spielten jüdische Lieder.

PS: Der Abend wäre noch atmosphärischer gewesen, wenn sich nicht mehrfach Mitglieder eines benachbarten Box-Klubs ihren Weg durch die andächtig lauschende Menge gebahnt hätten und man ihnen durchs Fenster beim Training zuschauen konnte. Vielleicht kann man da ja im nächsten Jahr für diese kurze Zeit ein Gentlemen's Agreement treffen ... (mw) +++

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