"Was will denn der Tätowierte hier?"
Nicht der Prototyp eines Predigers: Holger Kötz, Prädikant und Schamane
Foto: Schlitt
08.11.2022 / HOMBERG (OHM) -
Der Prädikant ist ein ehrenamtlicher evangelischer Prediger und wird auch als Laienprediger, Ältestenprediger, Hilfsprediger oder Predigthelfer bezeichnet. Er hat eine spezielle theologische Unterrichtung durchlaufen." So heißt es im Alltime-Internet-Lexikon Wikipedia. Wer sich dann einen ernsten älteren Herrn im unauffälligen Anzug mit einer großen Bibel in der Hand vorstellt, der vor dem Altar steht und mit heiliger Miene auf die Gottesdienstbesucher blickt, kennt Holger Kötz nicht.
Wenn Prädikant in den Kirchen und Gemeindehäusern des Evangelischen Dekanats Vogelsberg erscheint, dort wo sich alle kennen und in freudiger Erwartung ihres Laienpredigers in den Kirchenbänken Platz genommen haben, kann es schon mal passieren, dass ein Raunen durch die Reihen geht. "‘Was will denn der Tätowierte hier?‘ ist ein Spruch, den ich durchaus öfter höre, wenn ich irgendwo zum ersten Mal bin", lacht der 55-Jährige, der mit seinen bisher 13 Tattoos, seinem Glatzkopf und seinem legeren Auftreten auch gut zu einer Motorradgang oder anderen Freigeistern gehören könnte. Doch was er will, ist das Wort Gottes zu verkündigen.
Und das macht er auf ganz eigene Art und Weise, begeistert und guter Dinge, stets bestens gelaunt durch die Gegenwart Gottes, wie er sagt. Holger Kötz schreibt Geschichten, mit denen er die Inhalte der Bibel in die heutige Zeit bringen möchte. Mit der Hand trägt er sie in große Schreibbücher ein. 250 davon hat er schon gefüllt; in jedes passen etwa drei bis vier Gottesdienste hinein. "Ich schreibe die Dinge so, wie ich sie im Herzen habe, so wie Gott sie mir eingibt." Und diese Geschichten erzählt er so, wie er jede andere Geschichte auch erzählen würde, authentisch und zugewandt. "Ich hole die biblischen Geschichten vom Sockel", beschreibt der Prädikant seine Auffassung von Verkündigung. So kommt es, dass Fünfjährige ihn genauso gut verstehen wie Hundertjährige. Wer ihn einmal in der Gemeinde hatte, der möchte ihn wieder haben.
Als unvereinbar mit dem Glauben an Gott sieht Kötz dies nicht: "Gott und Manitou sind ein- und derselbe", sagt er, "und hier wie da geht es ums Geben und Nehmen und um Achtung und Respekt vor der Schöpfung." Und vor den Menschen: "Jeder hat den gleichen Wert und so soll man auch miteinander umgehen."
Holger Kötz‘ Kraftquelle ist seine große Patchwork-Familie: Sieben Kinder und acht Enkel gehören dazu. Seine jetzige Frau traf er wieder, als sie ihre Kinder taufen lassen wollte und er dies im Rahmen seiner Ausbildung bereits übernahm. Er kannte sie von früher, doch man hatte sich aus den Augen verloren. Jetzt sind sie im achten Jahr verheiratet und ergänzen sich nicht nur als verlässliche Eltern und Großeltern, sondern auch als den Menschen zugewandte Wesen, die – Kötz‘ Ehefrau Marion hauptberuflich, er selbst hauptsächlich ehrenamtlich – im Homberger Seniorenheim Goldborn alte Menschen versorgen, pflegen und ihnen Beistand geben. Als Frührentner aufgrund seiner Krebserkrankung kann er oft im Seniorenheim sein und den Menschen schenken, was dort selten ist: Zeit und Zuwendung. Auch Sterbebegleitung macht er – ohne Berührungsängste im Vertrauen darauf, dass Gott alles gut macht, über den Tod hinaus.
Besonders ans Herz gewachsen ist ihm sein Enkel Tom. Mit ihm geht er angeln, philosophiert über Gott und die Welt, tauscht Ansichten aus und – nimmt ihn mit auf seine schamanischen Reisen nach innen. Tom hört seinem Opa zu und umgekehrt. "Mein Opa wird ganz selten wütend, er hat fast immer gute Laune und jede Menge Geduld." Dass einige seiner Freunde ihm die Sache mit den spirituellen Reisen nicht so wirklich abnehmen, sieht der Elfjährige schon genauso gelassen und entspannt wie sein Großvater. Er ist überzeugt davon, dass man Gott in der Liebe der Menschen sehen kann. "Ohne Liebe geht nichts." "Und ohne Miteinander auch nichts", fügt Kötz hinzu.
Holger Kötz ist Prädikant mit Leib und Seele. Und er ist froh, dass er es sein kann, dass die Kirche auch für "einen wie mich" offen ist. Einen, der sich nicht verkleidet, der nicht auf die Kanzel steigt, der dafür steht, dass alle so sein können, wie sie sind. So ist Holger Kötz ein glaubwürdiger Überbringer seiner Botschaft. Genau das spüren die Menschen. Und das wird sich auch mit dem 14. Tattoo nicht ändern. (pm) +++