Charlie (15): "Ich bin ein Junge"
Was es bedeutet, im falschen Körper leben zu müssen
Fotos: Christopher Göbel
29.09.2022 / BAD HERSFELD -
Ich kenne Charlie schon seit seiner Einschulung in einer Bad Hersfelder Grundschule. Er ist so alt wie meine Tochter und hatte damals noch einen weiblichen Vornamen. Er war als Klassenkameradin meiner Tochter immer ein bisschen schüchtern, redete wenig, kam aber ab und zu zum Spielen oder zu Geburtstagsfeiern zu uns nach Hause. Heute, gut neun Jahre später, geht Charlie selbstbewusst damit um, transgender, also im falschen Körper geboren zu sein. Ich traf ihn zu einem Gespräch über sein bisheriges Leben und seine Wünsche für die Zukunft.
"Ich habe mich schon in sehr jungen Jahren als Junge gefühlt", erzählt er. In Kindergarten und Grundschule hat er als Mädchen gelebt und sich dementsprechend verhalten. "Ich hatte aber immer wenig Kontakt zu Gleichaltrigen. In der Schulbetreuung habe ich beispielsweise lieber mit den Betreuerinnen geredet und eine Tasse Tee getrunken, als mit den anderen Kindern zu spielen", erinnert er sich. "Ich hatte es akzeptiert, als Mädchen wahrgenommen zu werden", sagt er.
"Meine Eltern akzeptieren mich so, wie ich bin"
Trotz dieser negativen Erfahrung brachte er den Mut auf, sich bei seinen Eltern zu outen. "Die haben sofort 'okay' gesagt und mich gefragt, wie ich genannt werden möchte", so der 15-Jährige. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es für Eltern eine große Umstellung ist, wenn das Kind, das jahrelang als Mädchen lebte, plötzlich zum Jungen wird. Es brauchte seine Zeit, bis Eltern das richtige Personalpronomen und der neue Name sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen ist. "Sie haben das aber gut hinbekommen. Heute sagen sie vielleicht nur alle paar Monate 'sie' statt 'er'", so Charlie. "Meine Eltern sind super damit umgegangen und akzeptieren mich als das, was ich bin." In der weiteren Verwandtschaft habe es allerdings ein paar Diskussionen gegeben, als Charlie sich vor rund eineinhalb Jahren vor ihnen outete. "Wir mussten viel erklären", sagt Charlie. Er glaubt, dass (noch) nicht alle Verwandten ohne Probleme mit seinem Geschlecht und seinem Namen umgehen können.WG-Gründung in Fulda
Im Sommer hat Charlie die Schule beendet und ist derzeit Auszubildender zum Einzelhandelskaufmann. Dort arbeitet auch sein Ex-Freund, der ebenfalls Charly heißt und auch eine Transperson ist. "Wir sind seit zehn Monaten nicht mehr zusammen, aber wir verstehen uns trotzdem noch gut und haben Gefühle füreinander", erzählt der 15-Jährige. Der zwei Jahre ältere Charly lebt im Moment auch noch bei Charlies Familie in Bad Hersfeld. "Wir sind gerade auf der Suche nach einer gemeinsamen Wohnung, um eine WG zu gründen", so Charlie. Am liebsten im Raum Fulda. Im Oktober wird er 16 Jahre alt, sodass das Umziehen in eine eigene Wohnung kein großes Problem mehr darstellt. "Meine Eltern helfen uns toll und suchen mit uns gemeinsam nach einer Wohnung.""Eine homophobe Stadt"
Auch wenn er bisher weitestgehend positive Erfahrungen mit seinem Outing gemacht hat, sagt er dennoch: "Bad Hersfeld ist eine homophobe Stadt". Das macht er an Bemerkungen und Begegnungen fest, bei denen er auf der Straße beleidigt wird oder "blöde Kommentare" bekommt, weil er nicht der "Norm" entspricht. "Es gibt immer noch zu viele Menschen, die so etwas nicht kennen und nicht verstehen", bedauert er."Leider musste ich arbeiten, als der CSD in Bad Hersfeld stattfand. Dass aber so viele Leute da waren, ist schon toll", freut er sich. Beim CSD in Fulda war er allerdings dabei. (O|N berichtete hier und hier). "Ich war schon auf mindestens zehn CSDs, darunter in Berlin, Wiesbaden und Leipzig." Der CSD ist der Christopher Street Day, der weltweit mit bunten Paraden auf die Rechte und für die Gleichbehandlung unter anderem von homo- und bisexuellen Menschen sowie Transpersonen hinweist.
In seiner Freizeit geht Charlie gerne in der Natur spazieren, bringt sich gerade das Gitarrespielen bei und singt gerne. Und er schaut gerne Serien. Wenn er mehr Zeit hätte, würde er auch gerne weiter in die Malschule der Martinskirchengemeinde gehen. Dort ist er in diesem Jahr konfirmiert worden - als Charlie Stenzel. "Pfarrer Schäfer hatte damit überhaupt kein Problem", freut er sich.
Ich frage Charlie, wie er sich selbst in zehn Jahren sieht. "Ich hoffe, dass ich dann regelmäßig Hormone nehme, die geschlechtsangleichenden Operationen hinter mir habe und vielleicht auch einen Bart trage", antwortet er. Und er möchte dann als Erzieher arbeiten. In den nächsten Jahren hat Charlie noch einen langen Weg vor sich, den er aber selbstbewusst gehen will. Und er hat eine weitere große Hoffnung: "Es muss weniger Homophobie auf der Welt geben", sagt er. (Christopher Göbel) +++