Was wäre in Deutschland anders?

Der "Fall Archie": Gespräch mit dem Fuldaer Palliativmediziner Dr. Thomas Sitte

Wie wäre der "Fall Archie" in Deutschland behandelt worden?
Symbolfoto: O|N/Hendrik Urbin

11.08.2022 / FULDA - Das Schicksal des zwölfjährigen Archie Battersbee aus Großbritannien hat in den vergangenen Tagen sehr viele Menschen auch in unserer Region bewegt. Der Junge hatte sich zu Hause, offenbar bei einer Internet-Mutprobe, einen Unfall und schwere Hirnverletzungen zugezogen. Seine Ärzte hatten ihn - wie man liest - für hirntod erklärt, weil keinerlei Chance auf eine Genesung bestehe. Die Eltern dagegen wollten die lebenserhaltenden Maßnahmen fortführen und darum gekämpft, dass Archie künftig hospizlich versorgt werde solle.

Schließlich hatten sie auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und die Vereinten Nationen angerufen. Die Straßburger Richter hatten sich jedoch der Ansicht des britischen Gerichts angeschlossen, dass die Weiterbeatmung nach "zwingendsten Anzeichen" nicht im Interesse des Jungen sei. Archie starb am vergangenen Samstag in einem Londoner Krankenhaus.


Wie wäre der "Fall Archie" in Deutschland behandelt worden? Wohl wenige eignen sich besser für die Beantwortung einer solchen Fragestellung als Dr. Thomas Sitte, Facharzt für Anästhesiologie.  Der Palliativmediziner ist Vorstandsvorsitzender der "Deutschen PalliativStiftung" mit Sitz in Fulda. Gemeinsam mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Fachleuten sowie engagierten Laien engagiert er sich, um eine Verbesserung der Hospizarbeit und Palliativversorgung für schwerkranke und sterbende Menschen in Deutschland zu erreichen.

O|N hatte ihn angefragt, um über die Problematik zu sprechen. "Die ganze Sache ist furchtbar für die Eltern und kaum zu ertragen", so Sitte. Seiner langjährigen Erfahrung zufolge sei man in Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland allerdings großzügiger bei der "Nicht-Fortführung" von technisch machbaren, lebenserhaltenden Maßnahmen. Diese würden hierzulande mitunter angewandt bis zum ,Sankt-Nimmerleinstag', "aber einen hirntoten Menschen darf man auch hier nicht mehr behandeln. Mir scheint aber, das Archie wohl 'nur' schwerst hirnverletzt war. Wenn keine Hoffnung mehr auf Besserung besteht, dann wird in Großbritannien anscheinend die Behandlung schneller nicht mehr fortgeführt", betont der Palliativmediziner. 

Was Schicksale von Kindern angeht, ähnlich wie bei Archie, "so werden auch bei uns keine Gerichte angerufen - wenn Angehörige und behandelnde Ärzte sich einig sind". Wenn in Deutschland der Hirntod offiziell festgestellt werde, würde die Familie informiert, damit diese Abschied nehmen könne. Dann werde als Konsequenz die Beatmung nicht fortgesetzt. "In so einer Situation erstickt übrigens niemand!"

Gute und wichtige Informationen, nicht nur zu dieser Problematik, geben "Die Pflegetipps - Palliative Care", die, herausgegeben von Dr. Thomas Sitte, vor Kurzem in der 17. überarbeiteten und ergänzten Auflage im "Deutschen Palliativ Verlag" erschienen sind. Nähere Infos unter Telefonnummer 0661/480 497 97, per E-Mail an info@palliativstiftung.com beziehungsweise im Internet unter www.palliativstiftung.com .   (Bertram Lenz) +++

Dr. Thomas Sitte aus Fulda
Archivfoto: O|N/Carina Jirsch

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