Von Rolle zu Rolle

Der Weg vom "Chimaerium" auf die Notre-Dame"-Bühne

Hinter der Bühne muss beim Umstylen jeder Handgriff sitzen. Sieglinde Wenzel wechselt vom "Chimaerium" zu "Notre-Dame"
Fotos: Christopher Göbel

31.07.2022 / BAD HERSFELD - In diesem Jahr sind einige Statisten aus Bad Hersfeld mehr als üblich gefordert. Denn sie treten beim "Chimaerium" im Stiftspark auf, ehe sie in Windeseile zum Umziehen eilen, damit sie pünktlich zum Beginn von "Notre-Dame" auf der Bühne der Stiftsruine stehen können. OSTHESSEN|NEWS hat zwei von ihnen, Sieglinde Wenzel und Joachim Götz, einen Abend lang begleitet.



Sieglinde, pensionierte Lehrerin, spielt seit 2002 in der Statisterie der Bad Hersfelder Festspiele mit. Joachim, ebenfalls ehemaliger Pädagoge, ist seit 2015 dabei. "Ich bin eine Rampensau und habe als Kind schon gerne Theater gespielt", erzählt Sieglinde. Die Möglichkeit, bei den Festspielen mit auf der Bühne zu stehen, ergriff sie damals mit Freuden. Und auch Joachim findet nach seiner Pensionierung Sommer für Sommer die Zeit, bei den Festspielen mitzuwirken.

In der Statisterie wurde gefragt, wer sich vorstellen könne, beim "Chimaerium" mitzumachen. "Beim ersten Treffen hatten wir keine Ahnung, was uns erwarten würde", so Joachim. "Wir haben uns bei den ersten Übungen alle irgendwie unwohl gefühlt", fügt Sieglinde hinzu. Und doch haben sie sich dazu entschieden, im Stiftspark vor den "Notre-Dame"-Aufführungen Mischwesen aus Mensch und Tier zu spielen.

Im Chimaerium ist Sieglinde ein Huhn, Joachim ein Affenmensch. "Ich interagiere nicht mit den Menschen außerhalb meines Käfigs", sagt Sieglinde. Sie sei ein Huhn, das sich "genau so wohlfühlt". Anders bei Joachim: Er geht auf die "Gaffer" zu, macht bedrohliche Gesten, reagiert affenähnlich auf die Zuschauer. "Natürlich gibt es ab und zu blöde Kommentare. Aber dann bin ich Affe." Schöne Erfahrungen hat Sieglinde gemacht: "Einmal waren zwei kleine Mädchen da. Die eine gackerte mich an und ich gackerte zurück. Sie sagte dann zu der anderen: ,Du musst gackern, sonst versteht sie dich nicht'", erzählt Sieglinde. Kinder würden mit der Beobachtungssituation anders umgehen als Erwachsene.

Das Menschsein nicht vergessen

Doch ehe es soweit war, probten Bille Behr und ihr Mann Stefan vom "Theater Anu" mit den Laienschauspielern alleine oder in Zweiergruppen. Sie konnten sich selbst aussuchen, welche Tierart sie verkörpern wollten. "Bei allem sollten wir uns aber auch daran erinnern, dass wir Menschen sind", so Sieglinde.

Gegen 18.30 Uhr treffen sich die "Chimaerium"-Darsteller:innen hinter der Stiftsruine. Dort steht das Zelt, in dem alle Kostüme aufbewahrt werden. "Wir ziehen uns dort um und sind auch eigenständig für die Maske verantwortlich", so Joachim. Danach geht es hinter der Bühne entlang zur Nordseite der Stiftsruine, wo mit dem "Theater Anu" Lockerungsübungen zur Vorbereitung auf die anstehenden Aufgaben gemacht werden.

Pünktlich um 19.30 Uhr öffnet sich das Tor und die Chimaeren ziehen unter den staunenden Augen der Passanten zu ihren Käfigen und Gehegen. Dort absolvieren sie ihre Show (O|N berichtete), ehe sie sich flugs wieder quer durch die Stiftsruine auf den Weg zurück ins Zelt machen. "Dort legen wir die Kostüme ab und gehen im Bademantel wieder hinter die Bühne", sagt Sieglinde. Dort liegt schon die Ausstattung für "Notre-Dame" bereit. Wilma Rüffer von der Maske ist für die Beiden zuständig. Sie "schneckelt" (wickelt) beiden nacheinander die Haare, damit die Perücken aufgesetzt werden können, und schminkt sie.

Erste Fanfare: 30 Minuten

Dann werden Sieglinde, Joachim und die anderen geschminkt. Die Kostüme hängen hinter der Bühne bereit und jeder weiß, was er anziehen muss. "Wir haben jetzt die zehnte Vorstellung, da hat sich das alles schon eingespielt", so Joachim. Hinter der Bühne wird es langsam voller, denn alle anderen Statisten und die professionellen Darsteller:innen trudeln ein. Richy Müller ruft fröhlich "Hallo". Die Dresserinnen stehen bereit, um allen in die Kostüme zu helfen, letzte Handgriffe zu machen.

Zweite Fanfare: 15 Minuten

Von Aufregung ist hinter der Bühne wenig zu spüren. Der Betrachter hat den Eindruck, dass jeder weiß, was er wann und wo zu tun hat. Die Stimmung ist locker. "Die Aufführung beginnt in 15 Minuten", schallt es durch die überall im Backstage-Bereich angebrachten Laustprecher. Noch ist Zeit für einen Toilettengang oder um sich einen Becher Wasser zu holen. Langsam begeben sich alle zu den Auftrittsorten für die erste Szene von "Notre-Dame".

Dritte Fanfare: Es geht los

Sieglinde und Joachim entern mit ihren Kolleg:innen die Bühne. Alles ist durch wochenlange Proben einstudiert. In der zehnten Vorstellung hat sich schon Routine eingestellt. Plötzlich wird es hinter der Bühne wieder lebendig. Schauspieler und Statisten eilen durch die Gänge, um sich für die "Narrenzug"-Szene umzukleiden. "Jetzt bin ich Prosituierte", ruft Sieglinde und zieht sich die Perücke vom Kopf. Raus aus Rock und Jacke, rein in das dünne rosa Kleidchen und den Fellmantel. Dann nimmt sie wieder auf Wilmas Schminkstuhl Platz. Diese hat schon Sieglindes neue, blonde Lockenpracht zur Hand und platziert sie auf ihrem Kopf. Kaum fertig, ruft Inspizient Thomas Schäfer per Durchsage zum nächsten Auftritt. Im Zug der Narren folgen Sieglinde, Joachim und die anderen Quasimodo wieder auf die Bühne, um ihn zum König der Narren zu küren. 

Bis zum Ende des Stückes sind noch ein paar Umzüge nötig. Beim Schlussapplaus sind alle noch einmal auf der Bühne, ehe sie sich für den Tag mit dem Entledigen von Maske und Kostüm von ihren Rollen verabschieden. Und das alles tun sie bis zum Ende der diesjährigen Spielzeit beim "Chimaerium" und bei "Notre-Dame" noch dreizehn Mal. (Christopher Göbel) +++

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