"Chimaerium" im Festspielpark

Mystische Wesen und ein bisschen Beklommenheit

Die Nixe ist nur eines der Wesen, die im Festspielpark im "Chimaerium" zu sehen sind.
Fotos: Carina Jirsch / Christopher Göbel

04.07.2022 / BAD HERSFELD - Ich fühle mich ein bisschen unwohl. Ist es Voyeurismus, der mir dieses Gefühl der Beklommenheit einimpft? Wo ich bin? Ich befinde mich im Festspielpark an der Bad Hersfelder Stiftsruine. Käfige und Gehege stehen dort, ein Schild weist auf das "Chimaerium" hin. Was ist das? Was ist in den Käfigen? Woher kommen diese komischen Geräusche?



Das "Theater Anu" aus Berlin hat eine Art Zoo aufgebaut, durch den die BesucherInnen des diesjährigen Festspielstückes "Notre-Dame" vor dem Theatererlebnis flanieren können. Chimaerium - was bedeutet das eigentlich? Chimäre habe ich schon einmal gehört. "Chimäre nennt man in Medizin und Biologie einen Organismus, der aus genetisch unterschiedlichen Zellen beziehungsweise Geweben aufgebaut ist und dennoch ein einheitliches Individuum darstellt", so die Erläuterung auf Wikipedia. Ich kann mir denken, was mich erwartet. Wesen, die weder Mensch noch Tier sind. Wesen, wie sie in Märchen, Fabeln und Fantasy-Geschichten vorkommen.

Ich beginne meinen Rundgang im Staudengarten. Ein Schild am Gehege teilt mir mit: "Affenmenschen - Simia Sapiens". Ganz hinten sitzt etwas, das ein Gorilla sein könnte. Plötzlich kommt ein kleines Geschöpf, halb Mensch, halb Totenkopfäffchen, ans Gitter gesprungen. Es mustert mich neugierig. Macht "Uh-uh"-Geräusche. Es scheint neugierig, was ihn da anglotzt. Von der Aufregung dieses Wesens angelockt, trottet das Gorillawesen näher. Der Kleine klaut dem Großen den Strohhut. Der Große plustert sich auf, zeigt Wut, will auf den Kleinen losgehen. Doch der ist schneller...

Ein Gefühl der Unsicherheit

Ich fühle mich als Voyeur. Ich möchte eigentlich nicht hinsehen. Wie bei einem schweren Verkehrsunfall will ich die Augen abwenden. Hinzu kommt, dass ich die beiden kenne, die in den Kostümen stecken. Seit Jahren. Es sind Christopher und Joachim. Altgediente Mitwirkende der Festspiel-Statisterie. Wie soll ich mich verhalten? Soll ich sie wie alte Freunde begrüßen und damit quasi herausfordern, dass sie aus ihren Rollen fallen? Soll ich ihnen nur in die Augen blicken? Was denken sie sich, wenn ich sie anstarre? Was würde ein echter Gorilla denken? Ich entschließe mich dazu, den "Zoobesucher" zu geben. Ich schaue, aber sage nichts. Beobachte. Schrecke gespielt zurück, als der Gorilla mir mit einem Ast droht. Und dann drehe ich mich weg, will dieses Gefühl der Unsicherheit hinter mir lassen. Die Affenmenschen beginnen wieder, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Doch es wird nicht anders. Beim Weg durch das Chimaerium begegne ich als nächstes einem rot-bunten Geschöpf. Ein Vogelmensch? Dieses zumindest scheint in seinem Gehege mit sich zufrieden, kümmert sich nicht um mich und die anderen, die es duch die Gitterstäbe ansehen. Daneben: Ein Huhn und ein Hahn? Gackern, picken, scharren - aber mit aufrechtem Gang. Mein Verstand weiß: Es ist Sieglinde, mit der ich ein Online-Quizspiel austrage. Aber jetzt ist sie ein Menschenhuhn - oder ein Hühnermensch? Unangenehm ist es mir, sie so zu sehen. Natürlich weiß ich, dass sie alle schauspielern, dass sie ihre Rollen im Chimaerium mit "Theater Anu"-Chefin Bille Behr einstudiert haben. Und sie alle machen das toll. Ich könnte das nicht. Es erinnert mich an Situationen, in denen man seinen kleinen Kindern sagt: "Schau da nicht so hin."

Eine Freak-Show

Was bekomme ich noch zu sehen? Eine bärtige Frau - Renate. Dieses Panoptikum lässt mich an die reisenden Kuriositäten-Schauen denken, die vor rund zweihundert Jahren Menschen mit genetischen "Makeln" wie Vieh präsentierten und davon lebten. Julia Pastrana (1834-1860) kommt mir in den Sinn, die an Hypertrichose (unnormalem Haarwuchs) litt und in Freak-Shows als Affenfrau bekannt wurde. Sogar ihren Leichnam ließen windige Geschäftemacher nicht zur Ruhe kommen, bis sie 1913 endlich in ihrer mexikanischen Heimat ihre letzte Ruhe fand. "The greatest Showman" mit Hugh Jackman greift dieses Thema in Musicalform auf.

Weiter geht es. Ein Mischwesen aus Mensch und Robbe (eine Nixe?) tummelt sich in einem durchsichtigen Bassin, das schon von Weitem ins Auge fällt. Eine in ein blaues Abendkleid gehüllte Frau steht in einem anderen Käfig. Sie hat eine Schweinsnase. Und eine Art Robotermensch tanzt abgehackt ein paar Schritte weiter. Ein Hundemensch will, dass man mit ihm Bällchen spielt und ihn für seine Leistungen mit Leckerli belohnt.

Und dann finde ich einen mit rot-weißem Flatterband abgesperrten, leeren Käfig. "Djala & Esmeralda" steht daran. Esmeralda... das ist die junge Frau aus "Notre-Dame", Djala ist ihre treue Ziege. Damit schließt sich der Kreis, und die Verbindung zum Eröffnungsstück der diesjährigen Festspielsaison wird klar. Und zu Quasimodo, der auf der Bühne zum "König der Narren" gekrönt wird.

Vorgeschichte zu "Notre-Dame"

Was die Bad Hersfelder Festspiele mit der Kuriositätenschau neben der Stiftsruine zeigen, ist wie die Vorgeschichte zu "Notre Dame". Die Zuschauer werden durch eine Szenerie geführt, wie sie wenige Minuten später auf der Bühne angeschaut werden kann. Es ist eine geniale Idee, eine eindrucksvoll gestaltete Situation, die den Festspielbesucher aus dem wirklichen Geschehen zu dem auf der Bühne leitet. Grandios. Und ebenso grandios sind die Leistungen der Bad Hersfelder Statisten, die in ihren Käfigen und Gehegen ihre Rollen spielen. Und direkt von dort geht es für sie zu Maske und Kostümwechsel, um bei "Notre Dame" erneut auf der Bühne zu stehen.

Das Chimaerium ist an den Vorstellungstagen von "Notre-Dame" ab 19.30 Uhr in Betrieb. Doch nicht nur FestspielkartenbesitzerInnen können das Panoptikum besuchen, denn es steht jedem offen, der in dieser Zeit in den Stiftspark kommt. Der Spielplan der 71. Bad Hersfelder Festspiele ist unter www.bad-hersfelder-festspiele.de zu finden. (Christopher Göbel) +++

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